Zu wenig Courage und Fantasie

Christian Gerlach hat einen Band zur Täterforschung herausgegeben,der trotz viel versprechender Ansätze das Material nicht ausschöpft

von HARALD WELZER

Der Titel des Bandes „Durchschnittstäter. Handeln und Motivation“ verspricht etwas ganz anderes, als seine Beiträge einzulösen vermögen. Denn der Titel suggeriert, hier würden Biografien, Handlungen und Selbstdeutungen der Täter rekonstruiert. Das ist aber nicht der Fall. Beschrieben werden in den Beiträgen im Wesentlichen institutionelle Entwicklungsprozesse im Nationalsozialismus (etwa des Zollgrenzschutzes) und die Ausdifferenzierung von Suborganisationen mit Überwachungsfunktionen (Streifendienst der HJ). Es wäre daher sinnvoller gewesen, dem Leser „Studien zu Akteursgruppen“ zu versprechen, dann fänden die zum Teil sehr lesenswerten Beiträge die richtigen Adressaten.

Auch das Konzept des „Durchschnittstäters“ überzeugt nicht: Im Editorial werden „Durchschnittstäter“ definiert als „Täter jenseits der sozialen und ideologischen Eliten der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit“ – eine heillos weite Definition. Sie erlaubt keine Eingrenzung bei den für eine Täterforschung entscheidenden Fragen nach Orientierungen, Potenzialen und Optionen für die Täter.

So weit, so unbedacht. Abgesehen vom verfehlten Thema jedoch gibt es einige solide und sehr lesenswerte Beiträge: von Armin Nolzen zum Streifendienst der Hitlerjugend, von Jens Nagel und Jörg Osterloh zu den Wachmannschaften in Lagern für sowjetische Gefangene sowie von Thomas Sandkühler zum Zollgrenzschutz. Sie rekonstruieren die sich verändernde Zuweisung und Aneignung von Aufgaben bei den entsprechenden NS-Funktionseinheiten.

Bei dem Beitrag von Claudia Brunner zur Sozialpolitik des Münchener Wohlfahrtsamtes vermisst man hingegen die Herausarbeitung des NS-Spezifischen am Handeln der entsprechenden Akteure. So stellt sie ins Zentrum ihrer Analyse den 1881 geborenen Wohlfahrtsreferenten Friedrich Hilble, bei dem sich unmittelbar die Frage stellt: Sind dessen Dienstauffassung und arbeitsethische Orientierung nicht wesentlich auf seine Sozialisation im Kaiserreich zurückzuführen? Gehen nicht auch die Traditionen einer Wohlfahrtspflege, die im Kern Disziplinierung und soziale Unterstützung verband, auf diese Zeit zurück?

Völlig unklar bleibt, welche Maßnahmen und Stellungnahmen Hilbles (jenseits der ab 1933 veränderten Diktion) spezifisch für einen Akteur, ja „Durchschnittstäter“ im NS-Staat sein sollen. Brunners Einschätzung, dass Hilble „zu jenen verbeamteten Überzeugungstätern gehörte, die im NS-Regime, ungeachtet seiner inhumanen Intentionen, mehr als nur ,ihre Pflicht erfüllten‘“, scheint schon deshalb unbelegt, weil Hilble bereits 1937 gestorben ist. Interessanter wäre es gewesen, die Kontinuitätslinien autoritärer Wohlfahrtsstrategien nachzuzeichnen, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis eben in die NS-Zeit reichen und schließlich eine verhängnisvolle Verschwisterung mit rassistischen Konzepten eingehen. Brunners abschließende „Bewertung“, dass in „autoritären Regimen [...] die negativen menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen aktiviert und gesellschaftsfähig“ gemacht werden, stellt eine Anthropologisierung dar, die weder etwas zur Erklärung von Täterhandeln beiträgt, noch auf der Höhe des Forschungsstandes ist.

Armin Nolzens interessanten Beitrag zum Streifendienst der Hitlerjugend hätte es besser getan, wenn der Autor darauf verzichtet hätte, eine von ihm entwickelte Typologie von in der HJ praktizierten Gewaltformen als „Soziologie der HJ-Gewalt“ zu bezeichnen. Denn von einer solchen könnte ja erst dann gesprochen werden, wenn Befunde über die soziale Herkunft der Akteure beigebracht würden und damit die Dynamik der Gewalt als Prozess sozialer Interaktion beschrieben werden könnte. Da sich Nolzen dieses Defizits bewusst zu sein scheint, votiert er schließlich für eine „‚dichte Beschreibung‘ der Tat selbst“.

Dieser Hinweis ist mit Blick auf das Anliegen des Bandes bemerkenswert. Es scheint seit den gleichermaßen problematischen Arbeiten von Sofsky („Die Ordnung des Terrors“) und Goldhagen wohlfeil zu sein, immer dann das Label „dichte Beschreibung“ zu verwenden, wenn unklar ist, vor welchem methodischen Hintergrund die zum Teil sehr weit reichenden Aussagen und vorgeblichen Befunde zustande gekommen sind. Clifford Geertz’ Methode der „dichten Beschreibung“, die er im gleichnamigen Band auch am Material vorführt, zielt aber darauf ab, „den Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen, ihn in einer nachvollziehbaren Form festzuhalten“. In diesem Sinne betrachtet Geertz das, was man gewöhnlich als „Daten“ bezeichnet, „als unsere Auslegungen davon [...], wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen“. Das beschreibt genau Aufgabe und Problem der Täterforschung: Man hat es immer mit schon interpretiertem Material zu tun, durch dessen Deutung man hindurch muss, um zu verstehen, wie die Dinge sich für die Handelnden dargestellt haben. „Dichte Beschreibung“ ist mithin eine reflexive Methodologie. Wie man in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust die Wahrnehmung des Beobachters und Interpreten systematisch in die Analyse von Täter- oder Opferhandeln einbeziehen kann, zeigen die neueren Arbeiten von Saul Friedländer oder James Young.

So wenig solche Ansätze im vorliegenden Band in Anspruch genommen werden, so wenig wird auf Ansätze der Gewalt- und Machtsoziologie zurückgegriffen – die Autorinnen und Autoren verzichten allesamt darauf, sich bei dem eminent interdisziplinären Thema der Täterforschung anhand der Arbeiten von Hans Joas, Heinrich Popitz, Jan Philipp Reemstma, um nur einige zu nennen, zu informieren. Erstaunlich finde ich auch, dass gerade in der Auseinandersetzung mit den komplexen Handlungsprozessen, mit denen man es in der Täterforschung zu tun hat, nicht auf den figurationssoziologischen Ansatz von Norbert Elias zurückgegriffen wird, der es erlauben würde, Gewaltdynamiken als Prozesse sozialer Interaktion zu beschreiben.

Im vorliegenden Band wird ganz zu Recht regelmäßig auf Christopher Browning verwiesen, aber warum wird nicht von dessen sozialpsychologischen Befunden das herangezogen, was zur Erklärung von Täterhandeln beitragen könnte? Da die Autorinnen und Autoren des Bandes offenbar mehrheitlich einer jungen Wissenschaftlergeneration angehören, würde ich bei dem Versuch, die „Täterforschung“ voranzubringen, erstens mehr Courage beim Überschreiten disziplinärer Grenzen erwarten und zweitens mehr Fantasie im Entwickeln von Fragen an das so akribisch herauspräparierte Material.

Christian Gerlach (Hg.): „Durchschnittstäter. Handeln und Motivation“, 269 Seiten, Schwarze Risse, Berlin 2001, 32 DM (16,36 €)