Bildungsreformen ohne Lehrer

Tony Blair hat einen „Kreuzzug für die Verbesserung des gesamten Bildungssystems“ begonnen – und überfordert dabei die wichtigsten Beteiligten: Lehrerinnen und Lehrer. Dafür ist ein anderer Akteur um so besser eingebunden: die Wirtschaft

Bildungsreformen in den großen Industriestaaten, Teil 3: Großbritannien. Die USA wollen immer mehr Schulleistungstests (25. Juli), Japan lockert seine strenge Erziehung (8. August) – und unter Tony Blair ist „Education, Education, Education!“ angeblich das Topthema der britischen Politik. Aber nach der ersten Legislatur hat Labour die Rechnung ohne die Lehrer gemacht. Die Pädagogen sind beides, die wichtigsten Akteure und die Leidtragenden der Bildungsreform. Erfolge verzeichnen die Briten vor allem mit Kindergärten – die auch Eltern fördern

aus London RALF SOTSCHECK

Vor gut vier Jahren, als sich die britische Labour Party nach 18 Jahren Tory-Herrschaft auf die Machtübernahme vorbereitete, war es der wichtigste Punkt im Wahlprogramm: „Bildung, Bildung, Bildung.“ Keine Wahlkampfveranstaltung, auf der Tony Blair das magische Wort nicht wiederholt hätte. Und als der blinde David Blunkett nach gewonnener Wahl als Bildungsminister in seinen Amtssitz in den Sanctuary Buildings einzog, wurde er von Ministerialbeamten und Gewerkschaftsfunktionären mit Ovationen empfangen. Blunkett ist inzwischen Innenminister, seinem Nachfolger Stephen Timms, seit Juni im Amt, drohen die drei großen Lehrergewerkschaften mit Streik.

Was ist schief gegangen? Im Grunde gar nicht viel. Die Regierung hatte bei all ihren Reformplänen lediglich diejenigen vergessen, die sie umsetzen müssen: die Lehrerinnen und Lehrer, die vollkommen überfordert sind. Der Minister hatte „einen Kreuzzug für die Verbesserung des Standards im gesamten Bildungssystem“ angekündigt und bei den 21.000 britischen Grundschulen damit begonnen. Im Wahlprogramm hatte Labour versprochen, die Klassenstärke für 5- bis 7-Jährige auf 30 zu begrenzen. Im nächsten Monat soll es so weit sein.

Gleich nach ihrem Amtsantritt 1997 führte die Regierung eine tägliche Pflichtstunde zur Bekämpfung des Analphabetentums ein, kurz darauf folgte eine tägliche Mathematikstunde. Der Erfolg dieser Maßnahmen lässt sich an den Ergebnissen der Prüfung ablesen, die 11-Jährige in Britannien ablegen müssen. Sie bestimmt über ihren weiteren Bildungsweg. Hatten vor vier Jahren nur 65 Prozent die Englischprüfung bestanden, so sind es jetzt 75 Prozent. In Mathematik stieg die Zahl im selben Zeitraum von 59 auf 72 Prozent. Bis nächstes Jahr sollen die Quote noch mal um fünf Prozent verbessert werden.

In den Oberschulen sind die Fortschritte weit weniger spürbar – im Gegenteil: Ofsted, die Aufsichtsbehörde für den Bildungsbereich, hat einen deutlichen Anstieg bei Verhaltensproblemen von 11- bis 14-Jährigen registriert. Das, so glauben die Beamten, hänge mit den Verbesserungen in den Grundschulen zusammen. Das Lehrpersonal in den Oberschulen habe sich noch nicht auf die höheren Standards eingestellt und langweile die Jugendlichen mit Dingen, die für sie alte Hüte sind.

Blair und Timms haben der Oberschulreform deshalb Priorität eingeräumt. Einen Erfolg gibt es aber auch in diesem Bereich: Die Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist in den vergangenen vier Jahren um ein Viertel auf 33.000 gefallen. Von dem „Bildungssystem der Weltklasse, das Britannien benötigt, um im 21. Jahrhundert wettbewerbsfähig“ zu sein, wie Blair es sich vorstellt, ist man aber noch ein gutes Stück entfernt. Um das zu erreichen, will Labour die Privatwirtschaft heranziehen.

Deren Engagement im Bildungsbereich ist jedoch bei Pädagogen umstritten. Die Supermarktkette Tesco hatte 1991 den Anfang gemacht. Seitdem hat das Unternehmen mehr als 42.000 Computer in 25.000 Schulen aufgestellt. Das Projekt hat bisher 62,5 Millionen Pfund gekostet. Um Labours Bildungsreform zu finanzieren, sind die Schulen auf private Gelder angewiesen. Und die Unternehmen investieren gerne. Das Boulevardblatt Sun stiftet Schulbücher, die Sportartikelfirma Nike organisiert Fußballtraining, an dem eine halbe Million Kinder teilnehmen sollen, der Kommunikationsriese NTL verkabelt Schulen kostenlos, damit sie für das Internet gerüstet sind, die Großbanken verschenken CD-ROMs, damit die Kleinen das Finanzmanagement lernen.

Die Unternehmen verschenken ihre Ware natürlich nicht aus Herzensgüte, sondern sehen es als Investition. „Das ist keine esoterische Angelegenheit für uns“, sagt Robert Halhead, Werbestratege von NTL. „Wir sind da, um Geschäfte zu machen.“ Die Produkte, die verschenkt werden, tragen unübersehbar das Firmenlogo des Sponsors, und wenn Nike eine halbe Million Kinder ausrüstet, so erwartet die Firma natürlich, dass die Beschenkten Druck auf die Eltern ausüben und Nike treu bleiben. In letzter Zeit erhalten die Schulen ganze Paletten voller Schulhefte, die jede Menge Werbebotschaften enthalten – von Limonadenherstellern über Popgruppen bis hin zu Sportartikelfirmen. Aber Werbung und Produktbindung sind nur ein Bereich, wo sich die Wirtschaft in der Bildung engagiert. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Unternehmen, die sich um die Verwaltung der Schulen bewerben. Das betrifft die Einstellung neuer Lehrkräfte, die Bezahlung, die Bestellung von Schreibwaren und Briefpapier bis hin zur Instandhaltung der Gebäude und Klassenzimmer. Der Markt wächst. Eine Investmentzeitschrift riet ihren Lesern, in Nord Anglia zu investieren, das bereits in 15 lokale Bildungsbehörden involviert ist. Der Profit des Unternehmens werde in den nächsten zwei Jahren um 30 Prozent wachsen, prophezeit die Zeitschrift.

Der Sektor ist heute 1,6 Milliarden Pfund im Jahr wert. Innerhalb von fünf Jahren wird die Zahl bei fünf Milliarden liegen, glaubt das Finanzunternehmen Capital Strategies. Ob die Auslagerung bestimmter Leistungen am Ende jedoch billiger und effizienter ist, weiß man heute noch nicht. So sind von den neun Milliarden Pfund, die Labour 1997 für die Renovierung von Schulen bereitgestellt hat, 20 Prozent in den privaten Sektor geflossen. Die Firmen bauen Schulen auf oder errichten neue. Dafür erhalten sie von der Bildungsbehörde 50 Jahre lang Miete. Unter dem Strich ist das teurer, als wenn der Staat die Aufgaben selbst in die Hand nehmen würde.

In einer Nord-Londoner Schule haben sich Eltern, Schulleitung und Behörde gegen die Auslagerung entschieden, weil sie der Meinung sind, dass die Gelder, die eigentlich für die Verbesserung des schulischen Standards gebraucht werden, versickern würden. Doch diese Reaktion ist die Ausnahme.

Und es ist nicht der Punkt, an dem sich der Konflikt zwischen Regierung und Lehrpersonal entzündet. Die Lehrer unterstützen das Reformprogramm nicht, weil sie hoffnungslos überlastet sind. Es geht ihnen mit den Streikdrohungen um eine Reduzierung der Verwaltungsarbeit, nicht um höhere Gehälter – obwohl die leistungsbezogene Bezahlung der Lehrer auch zu mehr Arbeit führt, da viele ihren Schülern die Essays schreiben, damit der Standard der Schüler und dadurch die Bezahlung der Lehrer nicht sinken.

Hinzu kommt, dass das Reformprogramm zahlreiche Einzelinitiativen umfasst, mit denen Schulen in den Innenstädten und in benachteiligten Gegenden lernschwache und hoch begabte Kinder gefördert werden sollen. Mit jeder neuen Initiative kommt mehr Arbeit auf die Lehrer zu, denn sie müssen Prognosen für jeden Schüler aufstellen, ihre Fortschritte schriftlich festhalten und am Jahresende Abschlussberichte erstellen.

Wenn die Labour-Regierung es nicht schafft, ihr Verhältnis zu dem Lehrpersonal ins Reine zu bringen, nützen auch die besten Reformpläne nichts, die sich Blair und Timms ausdenken.