Zwischen Baum und Borke

Seit April ruhen im Regenwald an der kanadischen Westküste die Motorsägen. Teile des „Great Bear Rainforest“ sind durch einen Kompromiss zwischen Konzernen, Umweltschützern, Ureinwohnern und Regierung vorerst gerettet. Doch der wertvolle Wald ist weiter bedroht, wenn die Ureinwohner keine wirtschaftliche Grundlage erhalten. Sie hoffen jetzt auf Ökotouristen und Investoren

von BERNHARD PÖTTER

Sie sirren um die Ohren, krabbeln in die Nasenlöcher. Schweiß, Regen und Insektenmittel beißen in den Augen. Unter den Stiefeln schmatzt das nasse Moos, die Dornen des Bärenklaustrauchs greifen nach der Hose. Das satte Grün des Regenwalds verdeckt bis in dreißig Meter Höhe den bleigrauen Himmel, aus dem es beständig nieselt, tropft, glitscht und plätschert. Kein Wunder, dass die Mücken sich in diesem Urwald wohl fühlen.

Urwald? Jim Pojar grinst. „In diesem Wald ist vor achtzig, neunzig Jahren kräftig Holz geschlagen worden“, sagt der Biologe von der Forstbehörde in British Columbia. Er weist auf dicke Baumstümpfe von zwei Meter Durchmesser hin. Halb vermodert und mit grünem Moos behangen ragen sie aus dem Boden. „Das ist kein ursprünglicher Wald mehr, aber trotzdem wertvoller Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Der Wald kann sich erholen, wenn man ihn nicht kahl schlägt.“

Der Dschungel im Klekane Tal lässt hoffen. So wie hier könnte es in hundert Jahren im kanadischen Küstenregenwald von British Columbia aussehen, wenn sich die Idee der „variablen Bewahrung“ durchsetzt, die Pojar propagiert: Nicht mehr eine Fläche von zwanzig Fußballfeldern abholzen, sondern gezielt wertvolle Stämme der Gelben Zeder, Douglasie oder der Sitka-Fichte schlagen und dabei große Inseln des Urwalds stehen lassen. Der Wald kann sich wieder von selbst aussäen und bekommt eine zweite Chance.

Das wäre der Ausweg aus einem Dilemma der Naturzerstörung, in dem die Holzwirtschaft seit Jahrzehnten steckt. Denn die Ausplünderung der Ressource Urwald stößt an Grenzen: Der niedrige Holzpreis lohnt den Aufwand nicht. Mit Blick auf die staatlichen Ausgleichzahlungen haben die kanadischen Holzkonzerne deshalb einem Kompromiss zugestimmt, der den Wald vorerst rettet. Regierung und Umweltschützer sind mit der Schonfrist für den Urwald zufrieden. Doch ausgerechnet die kanadischen Ureinwohner haben ein Problem mit der Rettung ihrer Heimat: Sie verlieren ihre Jobs als Holzfäller. Ob es für die entwurzelten Stämme ein Überleben durch Tourismus und Fischerei gibt, wagt niemand zu sagen.

Stoppelig und weiß leuchten die Kahlschlagflächen dem Betrachter entgegen, der mit dem Flugzeug von Vancouver nach Norden fliegt. Im Tiefgrün der Nadelwälder winden sich die Holzfällerstraßen durch das unzugängliche Bergland. Noch vor knapp hundert Jahren war die Küste von Vancouver bis Alaska überzogen von riesigen Baumstämmen. Der Holzhunger des kanadischen Westens und vor allem der USA hat ihn auf zwei Millionen Hektar, die Größe Hessens, reduziert.

Die Regierung von British Columbia ist seit Jahrzehnten die treibende Kraft hinter der Holzaktion – obwohl unklar ist, ob ihr das Land überhaupt gehört. Die Holzlobby droht mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, schließlich finanziert sie mit umgerechnet zehn Milliarden Mark sechs Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts der Provinz. Zweihunderttausend Arbeitsplätze sind an die Holzindustrie gebunden.

Doch die Entscheidungen fällt die Politik: Die Behörden teilen den Holzfirmen nicht nur die Einschlagsrate zu, sondern verpflichten sie auch, diese Quote zu erfüllen. Schlagen die Konzerne zu wenig Holz, bekommen sie im nächsten Jahr Lizenzen für weniger Land. „Bei dem schwachen Holzmarkt würden wir gern weniger Bäume fällen“, sagt Corby Lamb vom Holzkonzern Western Forest Products (WFP). „Aber die Regierung will das nicht.“ Auch Forstwirtschaftler Pojar gibt zu: „Fischerei und Holzwirtschaft hier sind kaum noch rentabel.“ Die Politik wolle die Jobs in der Gegend retten. Deshalb lässt der Staat zuviel Holz schlagen – zwanzig Prozent mehr, als es seine eigene Forstbehörde für vertretbar hält. Das zerstört nicht nur den Wald, sondern verdirbt auch die Holzpreise.

Der Touristenshop in Klemtu Village ist ärmlich bestückt. Ein paar T-Shirts, Postkarten. Traditionelle Schnitzereien sucht man vergeblich. „Mit unserer Geschichte haben wir unser Handwerk verloren“, sagt Percy Starr, einer der Ältesten der Kitasoo. Im Hafen schaukelt eine kleine Plattform, auf der eine Hütte steht, in der Touristen schlafen sollen, die zum Kajakfahren kommen.

Über dem Wasser ziehen Weißkopfadler ihre Kreise wie anderswo die Möwen. Eine neue Strasse verbindet die etwa fünfzig Häuser und vierhundert Einwohner des Ortes. Die Einwohner fahren ihre Jeeps vom einen Ende des Hafens zum anderen und zurück – und Schluss: Die Straße ist zu Ende.

Für die Ureinwohner geht es ums Überleben – wirtschaftlich und kulturell. Jeder zweite in Klemtu hat keinen Job, durch das Ende der Holzeinschläge verlieren sie weitere Arbeitsplätze. Trotzdem tragen sie den Kompromiss mit, sagt Percy Starr. So geben sich die Kitasoo selbst eine Chance. Andere Gemeinschaften sind zerstritten oder kämpfen mit schweren Drogenproblemen. „Wir sind ein Volk im Übergang“, meint Starr.

Dessen Eintrittskarte in die moderne Welt soll der Ökotourismus sein. Vor der Küste wollen die Kitasoo Muscheln und Seegurken ernten. Eine Stunde Bootsfahrt vom Dorf entfernt haben sie außerdem eine Lachsfarm ins Meer gebaut. Die Fische werden im Auftrag eines niederländischen Lebensmittelkonzerns im Dorf geschlachtet und verpackt. Das bringt Jobs, aber auch Probleme: Die Atlantiklachse, die hier gezüchtet werden, gehören nicht hierher, sie bedrohen die heimischen Bestände des Pazifiklachses. „Was sollen wir machen?“, fragt Starr.

Die Ureinwohner, gerade mal etwa 4.500 im gesamten Küstenregenwald, sitzen bei der Erhaltung ihrer Umwelt zwischen Baum und Borke: „Das ist seit Menschengedenken unser Land. Wir haben niemals einen Vertrag unterzeichnet“, sagt Percy Starr. „Wie kommt die Regierung dazu, über unser Land mit den Holzfirmen zu verhandeln?“ Die Kitasoo arbeiten mit der Regierung und den Holzfirmen zusammen – andere Stämme wie die Nuxalks im benachbarten Bella Coola verweigern sich: Würden sie verhandeln, akzeptierten sie die Hoheit des Staates über ihr Land, so ihr Argument.

Den Kampf um den Regenwald haben die Nuxalks geführt, um ihren Anspruch auf das Land zu bekräftigen. Jetzt steht der Kompromiss, doch die Verhandlungen über die Landrechte stocken. „Die Nuxalks werden zum Juniorpartner, der auf der Zielgeraden der Strecke zurückbleibt“, sagt Carsten Brinkmeyer vom deutschen „Arbeitskreis nördliche Urwälder“. Organisationen wie Greenpeace gehe es nicht so sehr um die Ureinwohner, sondern „zu allererst um Urwaldschutz“.

Ohne wirtschaftliche Basis für die Ureinwohner gibt es kein Chance auf Umweltschutz, sind sich alle einig. Aber können die Ureinwohner überhaupt effektiv ihre Interessen vertreten? Ihr Sozialgefüge ist zerstört: Die Generation der heute Sechzig- bis Siebzigjährigen, die die Dörfer traditionell führen, ist in den berüchtigten residential schools aufgewachsen, in denen bis in die Sechzigerjahre christliche Missionare den „Indianerkindern“ ihre Kultur austrieben. „Wir müssen ganz von vorne anfangen“, sagt Frances Robinson von den Kitasoo. „Aber unsere Kinder und Enkel sprechen ja nicht einmal mehr unsere Sprache.“

Die riesigen Baumstämme neigen sich bedrohlich zur Seite. Drei Meter über dem Waldboden schweben sie waagerecht, fixiert auf zwei Baumstümpfen. Zwischen den beiden Giganten, die im feuchten Klima langsam vor sich hinmodern, öffnet sich ein Amphitheater von etwa fünfzehn mal fünfzehn Metern im Boden.

Für die Kitasoo ist diese „Arena“, eine Art von Stonehenge, ein besonderer Ort: Hier trafen sich über Jahrhunderte die Ältesten und Häuptlinge des gesamten Gebiets für Verhandlungen und Feste. Rundherum steht dichter, unberührter Regenwald. Doch die Idylle trügt. Denn die Kitasoo haben die Verbindung zu dem Ort verloren. Sie wissen nicht mehr, was hier wirklich war.

Hilflos stehen ihre Ältesten auf dem Sandstrand ihrer heiligen Insel. Das Land, in dem viele ihrer Vorfahren begraben sind und das sie vor der Zerstörung schützen wollen, trägt heute nicht einmal mehr einen indianischen Namen, sondern den der europäischen Eroberer: Princess Royal Island.

BERNHARD PÖTTER, 36, seit 1993 taz-Redakteur, hat British Columbia im Mai bereist