Die Metropole der Eiszeit

Blaubeuren, am Fuß der Schwäbischen Alb, hat Höhlen zu bieten, deren Malereien älter sind als die berühmten in Frankreich. Aber Touristen erfahren davon wohl erst in der nächsten Eiszeit

Der Deutsche Sommer, Teil IV: Stellen Sie sich vor, es gibt eine Kampagne und niemand nimmt sie wahr: Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) hat 10 Millionen Mark in das „Jahr des Tourismus 2001“ gesteckt. Gegen den Ruf der Servicehölle trommelt sie fürs „Erlebnisland Deutschland“. Wir haben uns hier zu Lande umgeschaut

von INGE MALZ

Es sieht nach Idylle aus. Ein tiefblauer Quelltopf, umgeben von schroffen Felsen, lichten Mischwäldern und Höhlen. Höhlen, in denen schon EiszeitjägerInnen kreativ waren. Ein über 900 Jahre altes Benediktinerkloster und ein mittelalterlicher Stadtkern statten Blaubeuren, das Städtchen am Fuß der Schwäbischen Alb, mit allem aus, was Sommerfrischler wünschen.

„Der Blautopf ist der große, runde Kessel eines wundersamen Quells bei einer jähen Felsspalte gleich hinter dem Kloster. Gen Morgen sendet er ein Flüsschen aus, die Blau, welche der Donau zufällt.“ Das hat der schwäbische Pfarrer und Dichter Eduard Mörike in seinem „Stuttgarter Hutzelmännlein“ geschrieben, einem märchenhaften Wanderbericht. Mörike hat darin dem Blautopf eine Wassernixe angedichtet, die von ihrem alten Nöck, dem König der Donau, nach Blaubeuren verbannt wurde. Sie sollte erst zurückkommen dürfen, wenn sie das Lachen gelernt hätte. Der Schönen Lau ist das gelungen, den BlaubeurerInnen von heute vergeht es gerade, angesichts einer Stadtpolitik à la 70er-Jahre.

Tourismus heißt das Zauberwort, auf das Bürgermeister Georg Hiller jetzt mit dem Mut der Verzweiflung setzt, denn die Stadtkasse ist leer und der örtliche Handel reibt sich erschreckt den Schlaf aus den Augen. Denn viele Läden stehen verlassen, immer mehr BlaubeurerInnen fahren zum Einkaufen in benachbarte Städte. BürgerInnen beobachten alarmiert, wie die „Perle im schwäbischen Lande“ an Glanz verliert.

Im Ozeanblau des Quelltopfes spiegelt sich der Kirchturm des Klosters, das Benediktinermönche 1085 gegründet haben. Der spätgotische Hochaltar aus der Ulmer Schule hat als einer der wenigen den Bildersturm nahezu unversehrt überstanden und gilt heute als Kleinod seiner Epoche. Auch die Überreste eines Badhauses der Mönche gelten in Süddeutschland als einmalig. Seit der Reformation wird im säkularisierten Kloster evangelischer Theologennachwuchs erzogen. Der Dichter Wilhelm Hauff, der Theologe Friedrich Strauß, der Schriftsteller Theodor Vischer oder der Ingenieur und Erbauer der Brenner-Eisenbahn Karl Etzel drückten dort die harte Schulbank. Wie hart das protestantische Klosterschulleben war, ist in Hermann Hesses „Unterm Rad“ oder in Peter Härtlings „Hölderlin“ nachzulesen. Heute ist das Evangelisch-Theologische Seminar Blaubeuren ein koedukatives humanistisches Gymnasium mit Internat.

Als „Metropole der Eiszeit“ ist das Städtchen der internationalen Fachwelt ein Begriff. Die ältesten aus Elfenbein geschnitzten Kleinplastiken der Welt sind in der Geißenklösterlehöhle gefunden worden. Farbspuren lassen den Schluss zu, dass Eiszeitkünstler lange vor den Brüdern und Schwestern in Südwestfrankreich Höhlenwände bemalt haben. Das französische Klima bekam den Gemälden allerdings besser als das der rauen Alb.

Das Urgeschichtliche Museum dokumentiert und rekonstruiert die Kultur der Vorfahren. Mit ihrem museumspädagogischen Programm waren die Blaubeurer Archäologen Pioniere, inzwischen sind es Heerscharen von Kindern und Jugendlichen, die dort steinzeitliche Techniken geübt haben, und als „Eiszeitjäger“ unterwegs waren. „Ihr Blaubeurer habt alles – Schätze der Natur, der Kultur – und macht nichts daraus“, wunderte sich der Kulturreferent einer benachbarten Kleinstadt, die für ihr quirliges Leben bekannt wurde, ansonsten aber ein ödes Kaff ist.

Einen Kulturreferenten oder einen Tourismusmanager hat Bürgermeister Georg Hiller in seinen 23 Amtsjahren nicht für nötig erachtet. Er vertraute auf den Reiz der vorgefundenen Schönheit, setzte lieber auf Ehrenamt und Ehrenbürger und initiierte die Gründung eines Fremdenverkehrsvereins. Das kam – vermeintlich – billiger. Die Handeltreibenden wollen zur Rettung ihrer Existenz Supermärkte im städtischen Grün beim historischen Stadtkern ansiedeln im Glauben, deren Kundschaft würde dann auch bei ihnen einkehren. Diejenigen, die auf die Karte Tourismus setzen, sind entsetzt, und die Alteingesessenen fürchten um die Wiesen, auf denen sie Fußballspielen gelernt haben. Für Tourismus sind alle, am Supermarkt scheiden sich die Geister.

Das alte Industriegelände hinter dem Bahnhof am Stadtrand wäre ein idealer Standort für Supermärkte, meinen die einen, während die Einzelhändler ein Ausbluten der City befürchten. Vom städtischen Grün aus wären ihre Läden rund 250 Meter entfernt, im platt gemachten Industrieareal 1,5 Kilometer

Ausgerechnet jetzt gewinnt die Stadt im engen Talkessel 25 Hektar Areal, denn die örtliche Zementindustrie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Verwaltung hätte den Zugewinn längst kommen sehen können, Fantasien, geschweige denn Konzepte für das Gelände wurden nicht entwickelt. Ratlosigkeit macht sich breit, denn das Land Baden-Württemberg gewährte zum Grunderwerb Millionenbeträge – Geld, mit dem Blaubeuren schleunigst in die Bebauung investieren sollte, sonst droht die Zurückzahlung.

Busfahrer setzen ihre Gäste schon seit Jahren zum Sightseeing in Blaubeuren ab, um dann mit ihnen in die Gastronomie umliegender Gemeinden durchzustarten, wo sie billiger und vor allem freundlicher bedient werden. Das Übernachten im Talkessel ist teuer.

Heute ist die Stadtkasse leer, aber jetzt werden Tourismusprofis für satte Honorare bemüht, das Kind aus der selbst gegrabenen Grube zu holen. Denn seit die Stadtverwaltung sich bei Neubauten um Millionen vergaloppiert, zudem 50 Millionen Mark Gewerbesteuer eingestrichen und verbraucht hat, bevor das Ulmer Finanzamt entdeckte, dass das Geld eigentlich in die Ulmer Stadtkasse gehört hätte, ächzen die knapp 13.000 BürgerInnen unter einer Pro-Kopf-Verschuldung von gut 4.000 Mark. Der Haushaltsplan 2001 wurde vom Landratsamt zum zünftigen Streichkonzert zurückgereicht. Eigentlich geht nichts mehr.

Der fortschrittliche Beschluss des Gemeinderates, die BürgerInnen im Rahmen der Lokalen Agenda 21 die Zukunft mitgestalten zu lassen, wird vom Bürgermeister strategisch unterminiert. Er plant stattdessen zusammen mit den Selbstständigen den Vollsortimenter vor den Klostermauern, mitten im grünen Areal von Kindergärten, Schulen und Stadtpark. Mit dem Erlös für Grund und Boden will er seine Stadtkasse aufpeppen. Ein unsensibles Vorhaben im Namen des Fortschritts, eine Verzweiflungstat angesichts des drohenden Bankrotts, jedenfalls völlig unvereinbar mit der von der Agenda beabsichtigten Nachhaltigkeit, aber auch unvereinbar mit dem Konzept, aus Blaubeuren einen Urlaubsort zu machen.

Sorgfältig wurde bislang vermieden, die BürgerInnen aufzuklären, was eine Lokale Agenda eigentlich ist und welche Rolle sie dabei spielen könnten. Die örtliche Presse trägt ebenfalls wenig zur Aufklärung bei und ignoriert, was die Bürgerschaft derzeit bewegt. Diese musste über Flugblätter davon in Kenntnis gesetzt werden, dass die Amtszeit des Bürgermeisters im Mai nächsten Jahres endet.

Unter dem Titel „Stadtmarketing“ hat der örtliche Einzelhandel Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich jetzt nicht unter das Dach der Lokalen Agenda 21 begeben wollen, weil sie eine Moderation von außen für Einmischung halten. Eine der sechs Gruppen befasst sich mit Freizeit und Tourismus. Die Mitglieder haben ein rostiges Geländer gestrichen und sich an der Aktion „blühendes Blaubeuren“ beteiligt. Die Gruppe „Geschichte und Kultur“ hat dafür gesorgt, dass die Kulturtermine eines Monats künftig als Tabelle in der Lokalpresse veröffentlicht werden. Auch Touristen sollen davon profitieren. Zudem sammeln die Mitglieder eifrig Geld, um Informationsstelen zu finanzieren.

Immer mehr aufgestörte BürgerInnen empören sich. Der Regierungsstil des Bürgermeisters, der seit gut 23 Jahren den Patriarchen gibt, kommt nicht mehr an, seine Finten und Ränke werden durchschaut. Gesucht wird der unerschrockene Prinz, der Dornröschen endlich wachküsst, statt ihr immer noch mehr Dornen umzulegen. Die Chancen stehen gut: Im nächsten Frühjahr sind Bürgermeisterwahlen.