Eine rauchen unter Feinden

■ Horst Kalthoff, Enkel des berühmten Martini-Pastors Albert Kalthoff, erinnert sich an seine aufregende Jugend in Bremen und Hamburg

m Sommer macht Horst Kalthoff mit seiner Frau Lotte Urlaub in Dänemark. „Unsere erste Auslandsreise bereitete uns heute kaum noch vorstellbare Probleme“, erinnert sich der gebürtige Bremer. „Unsere zwei Reisepässe kosteten zusammen fast den halben Monatslohn einer Sprechstundenhilfe, etwa hundert Mark.“ Trotzdem brechen Lotte und Horst in diesem Sommer auf. Es ist 1953. Acht Jahre sind seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Und nun trifft der ehemalige Soldat, Deserteur und Kriegsgefangene Horst Kalthoff den Londoner Geographielehrer Bill Barker. „Unser Gespräch kam auf den Krieg. Er hatte mit der Royal Air Force Bomben auf Bremen geworfen, während ich mit der Flak auf ihn schoss. Stupid!, sagte er und bot mir eine Zigarette an.“

Kalthoff bricht auf zu einer Zeitreise. In seinem soeben im Bremer Donat-Verlag erschienenen zweiten autobiographischen Buch erinnert sich der heute 75-jährige pensionierte Arzt an seine Jugendjahre: Er erlebt Nazis und Krieg in Bremen, überlebt so gerade ein französisches Kriegsgefangenenlager, lebt eine Weile in der eben gegründeten DDR und wird Mediziner und Tropenarzt in Hamburg.

Kalthoff ist – ein bisschen mehr als andere Menschen – nicht irgendwer. Er stammt aus einer pazifistischen Familie. Sein Großvater Albert (1850-1906) war als Pastor der Bremer Martini-Kirche ein so bekannter wie umstrittener und vom Mainstream angefeindeter Theologe. Zusammen mit zwei anderen Pastoren vertrat er den so genannten Bremer Radikalismus, der im Neuen Testament keine Geschichtsquelle sah. Er gründete unter anderem den Goethebund und die Bremer Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG).

In Gestalt eines „dunklen Porträts“ im „Herrenzimmer“ in der Wohnung an der Brückenstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße) lebt Großvater Kalthoff auch in Horsts Kindheit fort. Für weitere geistige Nahrung sorgt zu Horst Kalthoffs Teenagerzeit neben den Erzählungen über die Verwandtschaft die Bibliothek seines Vaters: „Sie erscheint mir als die Bibliothek eines Intellektuellen der 1920er und 1930er Jahre, die Reichspropagandaminister Joseph Goebbels mit Ausnahme von ,Mein Kampf' en bloc auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte.“ Thomas Manns „Buddenbrooks“ und der „Zauberberg“, Heinrich Manns „Professor Unrat“ und „Der Untertan“, Flauberts „Madame Bovary“ und andere Klassiker öffnen dem wegen seiner Wildheit Robby genannten Jungen die Welt.

Horst Kalthoff erzählt chronologisch und stützt sich dabei auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefwechsel. Nach einem kurzen Abschnitt zur Familiengeschichte berichtet er von unbeschwerten Aufenthalten auf dem Land, von Pennälerstreichen und von Erlebnissen mit Lehrern, denen er bald als Schulversager gilt. Manchmal zitiert der Autor ganze Abschnitte aus seinen Aufzeichnungen, um, wie er sagt, „den Zeitgeist zu bewahren“. Leider ist da das Banale oft nicht vom Wertvollen geschieden. Die Lektüre der 248 um ein Register ergänzten Textseiten wird mitunter zu einer Suche nach versteckten Perlen.

Da erscheint der Linksverkehr in Großbritannien bei einem Reisebericht bemerkenswert. Auch Beschreibungen von Landschaften, Sehenswürdigkeiten und Übernachtungsstätten finden sich. Die sind wohl von privatem Interesse, aber in der tagebuchspröden Form beim Lesen ermüdend. Häufig will man ganze Abschnitte überspringen, tut es und landet dann doch wieder bei einem Fundstück.

Stark sind die Erinnerungen da, wo Kalthoff sein eigenes Denken der Jugend mit seinem heutigen in Verbindung bringt und sich episodenhaft die „große“ Weltgeschichte auf das „kleine“ Leben niederschlägt. Die Schilderungen der Kindheit sind zugleich Erinnerungen an ein zerstörtes Bremen. Und auch die späteren Kapitel sind Stücke von oral history. So verbringen Lotte und Horst einige Monate in Ludwigslust, Mecklenburg in der jungen DDR. Dort erleben sie, mit welchem Druck die SED das gesellschaftliche Leben durchdringt und die Verwandten, die weder Block- noch Staatspartei beitreten wollen, reihenweise aus dem Job oder in den Westen treibt. Nach dem DDR-Intermezzo kehrt das Paar nach Hamburg zurück, Horst Kalthoff studiert weiter Medizin.

Ahnungslos über das Vorleben der Professoren bereitet sich Kalthoff am Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten (ISTK) auf sein Spezialgebiet Tropenmedizin vor, das er Ende der 50er Jahre als Regierungsarzt in Liberia für sieben Jahre ausüben soll. „Erstaunlicherweise fragten wir Nachkriegsstudenten nicht nach der politischen Vergangenheit unserer Universitätslehrer. Wir haben unsere Professoren nach ihrem fachlichen Können, ihrer Fähigkeit zu lehren und nach ihrer Menschlichkeit als Autoritäten anerkannt.“ Erst später trägt Kalthoff durch eigene Recherchen zur Aufklärung bei und fördert Ungeheuerlichkeiten zu Tage: Nachdem mehrere wichtige Institutsmitarbeiter 1933 oder bald danach gehen mussten, machten Nazis am ISTK Karriere.

Neben (bloß) politisch überzeugten Medizinern nennt Kalthoff die Namen Peter Mühlens und Walter Menk. Mühlens war als Fleckfieber-Beauftragter für Norddeutschland auch für die Gefangenenlager zuständig und probte an ihnen Entlausungsmittel. Menk und eine Ärztin namens Steinbömer infizierten Psychiatriepatienten zu Versuchszwecken mit Malaria. Über die Therapieversuche veröffentlichte der 1950 wieder mit Lehrbefugnis ausgestattete Menk, machte also Nachkriegskarriere auf Menschenversuchen!

Ein weiteres Detail aus der Geschichte des Tropeninstituts verschlägt einem dann vollends die Sprache: An ebendiesem Institut veröffentlicht 1927 der wissenschaftliche Mitarbeiter Otto Hecht (1900-1973) einen Aufsatz über „die besondere Eignung von Zyklon B zur Bekämpfung von Schädlingen“. Diese Substanz setzten die Nazis zum Massenmord in den Konzentrationslagern ein. Otto Hecht emigrierte 1933. Er war deutscher Staatsbürger jüdischer Abstammung. Christoph Köster

Horst Kalthoff: „Eine Jugend in Bremen und Hamburg“, Donat-Verlag, 29,80 Mark.