Bluten für das Modefach

An der Tübinger Traditionsuni sollen den klassischen Fächern 90 Stellen genommen werden – zugunsten der „besonders innovatorischen Bereiche“

von RALPH BOLLMANN

Es ist, als könnten es die Professoren kaum fassen. Galt das CDU-regierte Baden-Württemberg nicht immer als Paradies der Geisteswissenschaften, während im Norden kulturlose Sozialdemokraten kurzsichtig auf den gesellschaftlichen Nutzen starrten? War nicht gerade Tübingen die letzte Bastion des deutschen Geisteslebens, wo die abendlichen Vorträge eines Walter Jens populärer waren als jede Daily Soap?

Tempi passati, würden die alten Tübinger Gelehrten sagen. Jetzt unterwirft sich auch die schwäbische Traditionsuniversität, gegründet 1477, den Anforderungen des ökonomischen Kalküls und der wissenschaftlichen Moden. Weil die Hochschule die Biotechnologie zu ihrem neuen Schwerpunkt erkoren hat, müssen die klassischen Fächer bluten – von der Geschichte bis zur Physik, von der Soziologie bis zur Chemie. Insgesamt 90 Stellen will Unirektor Eberhard Schaich dort einsparen, um sie für die „besonders expansiven oder innovatorischen Bereiche“ umzuwidmen.

Der Paradigmenwechsel in den Feuilletons, wo Fragen der Gentechnik die klassichen Geisteswissenschaften längst in den Hintergrund gedrängt haben, ist jetzt auch an den Hochschulenangekommen. Und weil sich in Zeiten knapper Ressourcen der Wettbewerb unter den Universitäten verschärft, feilen sie kräftig an ihrem „Profil“ – was Wissenschaftspolitiker gleich welcher Couleur nach Kräften unterstützen.

Die hoch gelobte „Profilbildung“ hat allerdings einen Haken: Weil keine Hochschule auf das jeweils aktuellste Forschungsfeld verzichten will, führt das Bestreben nach Unterscheidbarkeit zur Gleichmacherei – das zeigt schon ein Blick auf die drei klassischen Universitäten im Südwesten: Die Idee mit der Gentechnik hatten nicht nur die Tübinger Unichefs, sondern auch ihre Kollegen in Heidelberg und Freiburg. Wissenschaftler wie der Bonner Stammzellenforscher Oliver Brüstle dürfen sich freuen: Die rege Nachfrage treibt die Preise.

Die Struktur der deutschen Universitäten, seit 200 Jahren kaum verändert, ist auf den raschen Wechsel wissenschaftlicher Moden nicht eingestellt. So wurden in den frühen Neunzigern allerorten neue Informatikfachbereiche eingerichtet und großzügig ausgebaut, um in den späten Neunzigern angesichts sinkender Studentenzahlen wieder verkleinert zu werden. Der Boom der New Economy brachte einen neuerlichen Aufschwung, der ebenso schnell wieder in sich zusammenfiel. Das alles wird in 30 Jahren längst vergessen sein – nur an den Unis nicht: Sie müssen die beamteten Professoren, die sie im kurzfristigen Überschwang eingestellt hatten, dann immer noch bezahlen.

Im Tübinger Fall war allerdings längst abzusehen, dass sich der Schwerpunkt von den Geistes- zu den Biowissenschaften verschiebt. Schon 1995 heimste die Genforscherin Christiane Nüsslein-Vollhard vom örtlichen Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie den Nobelpreis ein. Das war gut für das Image des Forschungsstandorts. So gelang es auch der Universität, in großem Maßstab Fördergelder einzusammeln. Im Gegenzug musste sich die Hochschule verpflichten, die neu geschaffenen Stellen nach Ende der Förderfrist aus ihrem Etat weiter zu finanzieren. Was jetzt zu einem Aufschrei der betroffenen Fachbereiche geführt hat, war also für Eingeweihte längst absehbar. „In unserer Fakultät war das Bewusstsein dafür vorhanden“, sagt Werner Schmidt, Dekan der Tübinger Biologen. „Wenn die anderen Fakultäten das nicht gemerkt haben, dann kann ich dazu nichts sagen.“

Auf der anderen Seite befinden sich die Tübinger Geisteswissenschaften schon seit Jahren in einem schleichenden Niedergang. Die Zeiten, in denen Geistesgrößen wie Ernst Bloch, Walter Jens oder Hans Küng mit ihren Vorlesungen die größten Hörsäle füllten, sind längst vorbei. Anders als in Großstädten wie München oder Berlin gibt es am Neckar kaum noch Gelehrte, die über ihr Fach hinaus auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind.

Merkwürdig verhalten bleibt auch der Protest der Professoren, die sich in einer gemeinsamen Erklärung lediglich mit Verfahrensfragen befassten – um dann noch ganz defensiv hinzuzufügen, die Investitionen in die Biotechnologie müssten „von gleichen Anstrengungen zur Erhaltung der kulturellen Kompetenzen gegenbalanciert“ sein. Für die „kleine, große Stadt“ (Walter Jens), die trotz ihrer Provinzialität einmal eine Weltstadt des Geistes sein wollte, ist das ein bisschen wenig.