Dieser Vogel darf nicht sterben

1998 kam ein Schwarzhalstaucherpaar. Heute sind es sieben. Sie brüten neben Zwergtauchern, Reiherenten und Flussregenpfeifern. Wie lange noch?

aus Mainhausen HEIDE PLATEN

Dunkelgrün, türkis, hellblau: Eine schimmernde Kette von Teichen und Seen reiht sich aneinander. Flache Uferzonen, steile Abbruchkanten, dichte Schilfgürtel, Wald kilometerweit. Am hohen Himmel singt eine Heidelerche, ein Neuntöter schaukelt auf einem Kiefernast. Ein Paradies? Ach was, nicht im Speckgürtel von Frankfurt am Main, im dicht industrialisierten Südosten Hessens. Die Autobahn A 45 übertönt das Waldesrauschen, Lastwagen stauben durch den Forst bei Mainhausen, der Bauschutt donnert von den Ladeflächen, Raupenketten walzen ihn mit Getöse platt. Der Naturschützer und Ornithologe Ernst Böhm ist dennoch zufrieden und sagt: „Die Autobahn ist ein wahrer Segen!“ Der Lärm hält die Erholungssuchenden fern. Den Schwarzhalstauchern ist er sowieso egal. Sie schaukeln im sicheren Wasser der Bongschen Tongrube hinter dem hohen Zaun, der Zugang – „Privatweg. Gesperrt“ – ist mit einem schweren Eisentor verschlossen.

Einigkeit dank Giftmülldrohung

Das ist seit den 80er-Jahren so. Turbulente, aber auch schöne Zeiten der Einigkeit waren das einst im Ort. Da zogen die Mainhausener alle an einem Strang. Damals gewann David gegen Goliath. 1972 stellte die mächtige Hessische Industriemüll-GmbH (HIM) einen Antrag, die bereits von der Basalt AG ausgebeutete, stillgelegte Tongrube als Sondermülldeponie nutzen zu dürfen. Die Bürger der beiden damals noch getrennten Anliegergemeinden Mainflingen und Zellhausen waren entsetzt und stritten vergeblich gegen den Giftmüll in ihrem Wald.

1981 besetzten sie die Grube und bauten ein Hüttendorf, um die Rodungsarbeiten zu verhindern. Sofortvollzug wurde angeordnet, die Polzei räumte, 4.000 Bäume wurden gefällt. Die Mainhausener, allen voran der CDU-Bürgermeister Dieter Gröning, gaben nicht auf und verlegten sich auf die komplizierte Materie des Wasserrechts, auf Expertisen und Klagen zum Schutz des größten Trinkwassereinzugsgebietes der Bundesrepublik. Drei Millionen Mark kostete das die Gemeinde, die sich dabei hoch verschuldete. Die Beharrlichkeit zahlte sich aus. 1986 kippten Gerichte unter der Ägide des grünen Umweltministers Fischer das Planfeststellungsverfahren und den Sofortvollzug. Die HIM ging in die zweite Runde, beantragte ein neues Verfahren und blamierte sich öffentlich, musste Schlampereien, Fehler, falsche Angaben über den Grundwasserspiegel eingestehen. 1994 gab sie auf. Die Gemeinde feierte und kaufte die Grube mit Hilfe von Land und Kreis für neun Millionen Mark selbst, um künftigem Unheil vorzubeugen. CDU-Bürgermeister Dieter Gröning galt als einer der Vorreiter des Abwehrkampfes und erzielte hohe Wahlergebnisse.

Vom Sand-, Kies- und Tonabbau lebte die Region schon im vergangenen Jahrhundert, eine Grube neben der anderen entstand auf dem kargen Boden. Die Menschen bauten ihre Häuser aus Lehm. Viele Gruben sind leer geräumt, aufgegeben, die meisten mit Grundwasser zugelaufen. Einige wurden verfüllt und wieder aufgeforstet. Für den Ornithologen und Naturschützer Ernst Böhm ist jede noch erhaltene ein wertvolles Biotop. Das schafft jetzt die Interessengegensätze bei den einstigen Kampfgefährten. Denn für Bürgermeister Gröning ist jedes Loch im Boden auch eines, das die Haushaltskasse füllen könnte. Vorbei ist die Zeit des gemeinsames Kampfes, Beispiel der Zivilcourage bundesweit, in Hessen außerdem Grundlage der ersten schwarz-grünen Koalition auf kommunaler Ebene. Seit die HIM endgültig auf ihr Giftmüll-Projekt verzichtete, ist die Gemeinde gespalten. Nicht Gerichte oder Politik verhalfen dem Ort zum Erfolg, sondern ein umstrittener Deal. Die parteienübergreifende Einheitsfront von Bürgermeister, Gemeinderäten, Bürgerinitiativen und Naturschützen zerbrach, als sich Gröning im Alleingang und jahrelang glücklos um eine neue Nutzung der Grube bemühte und einen Vorvertrag mit einer Lurgi-Tochter zum Bau ausgerechnet einer Reinigungsanlage für vergiftete Böden unterzeichnete. Das Projekt scheiterte ebenso wie der Plan, den Tonabbau wiederzubeleben.

Seither stagnierten die Nutzungspläne. Die Grube blieb fast zehn Jahre lang sich selbst überlassen. Naturschützer zählten die Tiere im herangrünenden Biotop: 22 Vogel-, 15 Libellen-, 30 Schmetterlingsarten, der Kreis Offenbach favorisierte ein Naturschutzzentrum im ehemaligen Laborgebäude der HIM, die örtliche SPD schlug ein kleines Museum zur Dokumentation von Zivilcourage und Widerstand vor. Unbelasteter Bauschutt, das war der letzte Plan der absoluten CDU-Mehrheit im Gemeinderat, sollte innerhalb von zehn Jahren zwei Drittel der Grube wieder auffüllen und wenigstens einige Millionen einbringen. Ein Antrag zur Wiedernutzbarmachung war beim Regierungspräsidium Darmstadt eingereicht und stand kurz vor der Genehmigung.

Bürgermeister Gröning hatte dabei zwar mit dem erbitterten Protest der Naturschützer, nicht aber mit der Natur selber gerechnet. Die kam in Gestalt des Schwarzhalstauchers (Podiceps nigricollis) über ihn, eines scheuen, vom Aussterben bedrohten Wasservogels, selten in Deutschland, noch seltener in Hessen mit bisher nur vier Brutpaaren im fernen, mittelhessischen Vogelsberg. Die Schwarzhalstaucher stehen auf der Roten Liste unter Kategorie I verzeichnet, also gerade noch nicht ganz ausgestorben. 1998 hat Ernst Böhm die Tiere zum ersten Mal in Mainhausen gesehen: „Da habe ich noch nichts gesagt.“

Und da: Die Population explodiert

1999 aber tauchte wieder ein Paar auf und nahm Heimstatt in dem kleinen See. Es gesellte sich zu den verwandten und ebenfalls gefährdeten Zwergtauchern (Tachybabtus ruficollis), zu Reiherenten und Flussregenpfeifern und brütete. Im Jahr 2000 kamen dann zwei Paare, brüteten und zogen Junge auf. Im Frühjahr 2001 explodierte die kleine Population nachgerade und erreichte auf den 16 Hektar Seefläche die höchste Brutdichte in Hessen: sieben Brutpaare und ein Jungvogel aus dem Vorjahr landeten auf dem Gewässer und begannen, ihre Nester zu bauen. Ende Juni werden die Jungen schlüpfen. Böhm staunte, zählte und schlug im April Alarm. „Seither“, vermutet er, „sieht der Gröning rot, wenn er meinen Namen hört.“

Das Federvieh veränderte schlagartig die behördlichen Zuständigkeiten, die durch sein Auftauchen nun beim hessischen Umweltminister liegen. Auf offiziellem Weg sind die Vögel nicht mehr zu besichtigen. Bürgermeister Gröning hütet die Schlüssel zum Eisentor. Pressebesuche, ließ er der SPD-Gemeinderätin Ruth Disser leicht schlitzohrig mitteilen, seien nicht möglich. Sie könnten die Schwarzhalstaucher beim Brutgeschäft stören. Da gibt auch Naturschützer Böhm klein bei, lächelt fein, umrundet das Gelände, klettert eine Böschung empor und gönnt sich über den Zaun von oben einen langen Blick auf die Tiere. Natürlich weiß er außerdem auch noch, wo der Zaun Löcher hat.

Die Vögel sind immer nur kurz zu sehen, weil sie eben vorwiegend tauchen. Schwarzer Hals, orangefarbene Federbüschel an den Ohren, leuchtend rote Augen, stahlblau schimmerndes Gefieder an Rücken und Flügeln. Sie tauchen sekundenschnell auf, und schwups, minutenlang wieder unter. Auf der Wasseroberfläche bleiben nur Kreise. Am gegenüberliegenden Ufer ist eines der locker geschichteten Nester zu erkennen, vom brütenden Altvogel ragen nur Kopf und Schnabel heraus. Die Schwarzhalstaucher sind für Ernst Böhm ein lebendes Beispiel dafür, dass sich auch seltene Tiere in Menschennähe wieder ansiedeln können, wenn nur das Biotop stimmt, reich gegliedert ist und „einfach in Ruhe gelassen wird“.

Er und die Naturschutzverbände werden zusammen mit der SPD und den Grünen für die Schwarzhalstaucher nun wieder vor die Gerichte ziehen: „Wir werden das alles schön ausschöpfen.“ Wenn es sein muss, „bis zum Europäischen Gerichtshof. Infrage kämen da zum Beispiel Klagen auf die Einhaltung der Vogelschutzrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft, Artikel 4,1 und 4,2, nach denen der Bestand besonders gefährdeter Vogelarten geschützt werden muss. Im März schlug der Naturschutzbund Deutschland das Gebiet zur Ausweisung als europäisches Vogelschutzgebiet vor. Die staatliche Vogelschutzwarte wies das Regierungspräsidium vorsorglich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom Dezember 2000 hin, nach dem potenzielle Schutzgebiete schon vorab Bestandsschutz genießen und besonders pfleglich behandelt werden müssen. Wenn aber der Schwarzhalstaucher nicht ausreiche, dann, so legte der Naturschutzbund Deutschland in einem Schreiben an das Regierungspräsidium in Darmstadt nach, sei auch zu beachten, dass sich im Lauf der Jahre an den Talflanken der Tongrube Silbergrasfluren ausgesiedelt hätten, die ebenfalls schützenswert seien. Dazu kommen Sandmagerrasen, Zwergstrauchheiden, diverse seltene Insekten und Frösche.

EU-Vogelschutzrichtlinien hin, Flora-Fauna-Habitat her: So heftig wie derzeit ist selbst zur Zeit des Kampfes gegen die HIM in Mainhausen nicht gestritten worden. Die Naturschützer sammeln ihre Heerscharen einschließlich der örtlichen Jägerschaft in Kreis, Land und Bund, sammeln Unterschriften und legen Widersprüche ein. SPD und Grüne im Landtag formulierten Große Anfragen. Bürgermeister Dieter Gröning ist es leid. Er würde die teure Grube, ließ er wissen, am liebsten an das Land Hessen verschenken.