Alte Kader, neue Posten

Der eine hat seine Stasi-Vergangenheit ausgesessen, der andere wird vom Bundespräsidenten empfangen: zwei Karrieren aus Ostdeutschland

aus Meißen und Wittenberg THOMAS GERLACH

Die Uhr tickt links. „Hier, schauen Sie mal!“ Ralf Eißler löst sie vom Gelenk, schiebt sie rüber. Schau an! Auf der Rückseite die abgehackten SED-Hände und das Banner, eingraviert in Edelstahl. Die Partei lebt, zumindest tickt sie noch – am linken Handgelenk von Ralf Eißler, dem PDS-Kandidaten für den Oberbürgermeisterstuhl von Meißen. „Limitierte Auflage. Glashütte Quarz, funktioniert seit über zehn Jahren!“ Eigentlich sollten diese Uhren den Delegierten des 12. SED-Parteitages überreicht werden, doch der fand nicht mehr statt. Im Wendeherbst häutete sich die Einheitspartei zur PDS, Ralf Eißler häutete sich mit. Die Macht übernahm eine neue politische Klasse aus Wendeaktivisten, Mitgliedern der Blockparteien, Einheitsgewinnlern, Westimporten.

Aus dem Genossen Eißler, dem Studiendirektor und Stasi-IM der LPG-Hochschule Meißen, wurde ein Paria: runter vom Ross, raus aus der Schule, neuer Job, gefeuert wegen Stasi, Kleinunternehmer mit Kleinbus, Praktikant, Umschulung, Arbeitslosenhilfe, Lehrgang – elf Jahre durchgewurschtelt. Eine Bruchlandung im neuen Deutschland. Die Haut gerettet, sonst nichts.

Das ist die eine Geschichte. Die andere ist ein Steigflug: Kreisvorsitzender der PDS im Februar 1990, Stadtrat, Kreistag, Landesvorstandsmitglied, Fraktionschef im Kreistag und auf allen Parteitagen dabei, mitgetanzt, die Uhr tickte am Handgelenk, die Zeiger rückten vor. Und es gab kaum einen Aussetzer, als der Stasi-IM Eißler aufflog. SPD und CDU konnten im Kreistag boykottieren, wie sie wollten, Eißler trat nicht zurück, und die Uhr tickte weiter, zählte Stunden, Tage, Jahre. Jetzt ist es so weit: Genosse Eißler wird am 10. Juni zum Oberbürgermeister gekürt – das ist der Wunsch. Das will Ralf Eißler. Und die PDS will es auch. Die nächste Häutung: Stadtoberhaupt mit Amtskette und Rathausschlüssel.

Die Chancen sind günstig. Nach elf Jahren ist die neue politische Klasse nicht mehr neu, und die alten Machthaber sind nicht mehr so alt und verdorben. Das Blatt wendet sich. Wie in einem Wärmetauscher verlieren CDU und SPD kontinuierlich Energie, ihre Gunst erkaltet und sinkt, die PDS wird warm und steigt nach oben. Die Männer von damals werden wieder attraktiv. Sie haben als Partei das erlebt, was viele privat durchgemacht haben: Bedeutungsverlust, Degradierung, Kränkung, Bruchlandung. Schicksal verbindet. Die CDU ist in der Krise – im Bund, im Land und hier auch. In der Porzellanstadt Meißen haben sich christdemokratischer OB und CDU-Stadtratsfraktion verkracht. Der Schwung der ersten Jahre ist hin, das Geld auch. Und die Sozialdemokraten hat die PDS längst abgehängt.

Zu polemisch, zu aggressiv

Und doch hatte Eißler anfangs Mühe, seine Genossen zu sammeln. Denn die PDS hat das Rentenalter erreicht. Manchen galt der 42-Jährige als zu junger Hengst. Zu polemisch, zu aggressiv, zu unbeherrscht sei er, hieß es. Dann hat ihnen der junge Kerl mit seiner Rede und seinem Machtinstinkt doch gehörig imponiert. Seine Stasi-Vergangenheit hat keinen interessiert.

Ralf Eißler hat kein Gran von einem Machtmenschen. Verloren sitzt er im „Haus für viele(s)“, gleich hinterm Bahnhof, und redet von seinem Sozialismus. Die Welt als Trias – Mensch, Wirtschaft, Gesellschaft. „Der Kapitalismus betont die Wirtschaft, der DDR-Sozialismus hat die Gesellschaft herausgestellt“, sagt Eißler. Sein Sozialismus ist kein Klassenkampf, sondern Harmonie wie das „Haus für viele(s)“. Ein schmucker Bau: viel Holz, schöne Farben, Fotos, Piano – ein Hauch von Waldorfschule. Nur die Menschen fehlen noch. Das soll sich ändern, das hier wird der Jungbrunnen, hier wird sich die Partei erneut häuten.

Das sanierte Gemäuer ist Eißlers Verdienst, ganz Meißen weiß das. Das Haus ist ein eingetragener Verein, doch jeder weiß, dass es ein U-Boot der PDS ist: Kneipe, Jugendclub, Kleinkunstbühne. Am Elbufer üben Halbwüchsige auf Skatboards. Bald werden auch sie im Haus ein Plätzchen finden. Ralf Eißler haben sie vorhin begrüßt wie einen großen Bruder. Schön sah das aus, ein lebendes Wahlplakat. Junge Menschen haben ein junges Gedächtnis. Fragen nach SED und Stasi klingen aus. Nach Schuld folgt Sühne folgt – Vergessen.

Gut 100 Kilometer elbabwärts geht ein Mann durch die Straßen von Wittenberg. Die Sonne lacht, der Frühling hat ihn wieder. Genosse Horst Dübner war Erster Sekretär der SED-Kreisleitung Wittenberg und damit mächtigster Mann im Kreis. Das ist lange her, mit der Wende kam das Aus. Freundlich wie ein Pastor läuft Dübner zum Markt, hin zum Rathaus. Am 6. Mai will er Oberbürgermeister werden. Gelegentliche Grüße von Passanten saugt er auf wie Nektar. Keine Spur von Funktionär, obwohl er als FDJ-Sekretär in einem Betrieb begann, dann Kreis- und später Bezirkssekretär der FDJ wurde. Eine DDR-Karriere, Apparatschik bis zur Rente.

Horst Dübner fiel nach oben und kam 1986 in Wittenberg an. Dann die Wende. Nein, eine Bruchlandung hat es bei Dübner nicht gegeben, wohl eher einen Sinkflug. Dübner hat ihn elegant hingekriegt. Weniger Schrammen, keine Stasi – Horst Dübner trägt ein Lächeln im Gesicht. „Ich hoffe, die größten Fehler hinter mir zu haben“, sagt der 54-Jährige. Ein Satz wie ein Transparent – groß und leicht und am Morgen entrollt. Und eine Antwort auf vieles.

Kein Gang nach Canossa

Große Fehler hat er auch in den vergangenen elf Jahren nicht gemacht. Die DDR verblasste, sein Name blieb. Dübner arbeitete in der Lutherstadt an seiner persönlichen Buße und trug dazu bei, eine Verheißung zu erfüllen, die im Sozialismus versagt blieb: Vielen Wittenbergern verhalf er zu einer Wohnung. Horst Dübner hat es angepackt im Verein „Wohnung durch Selbsthilfe“, dessen Geschäftsführer er war. Leer stehende Kasernen hat der Verein saniert, zig Millionen Mark verbaut, über 200 Wohungen verkauft, preiswert, wie er betont, Stellplatz inklusive. Das gab Arbeit, Lohn und Ehre. Und es gab einen Händedruck, vom Bundespräsidenten im Schloss Bellevue am „Tag der Innovation“. Der ehemalige Erste Sekretär als Erneuerer bei Roman Herzog. Das war das Gegenteil von Canossa, das wirkte wie eine Absolution.

Nun fliegt Dübner neue Ziele an: den Schreibtisch des Bürgermeisters. Vorher Stadtrat, Kreistag, Fraktionen, Anträge, Geschäftsordnung – das hat auch er längst intus. Schwarzes Hemd, schwarzweißer Schlips, dunkles Sakko – Zurückhaltung trägt Dübner nicht nur auf der Haut, auch darunter. Den Rathausschlüssel hat der SPD-Oberbürgermeister seit 1990 in den Händen. Er will noch einmal antreten. „Er sagt, elf Jahre sind nicht genug. Sollen doch die Bürger von Wittenberg darüber abstimmen.“ Horst Dübner sagt das freundlich. Nochmals zählt er Wahlergebnisse auf. „Ich denke, dass es in Wittenberg spannend wird.“ Politik braucht Wechsel.

Horst Dübner lässt Luther und Melanchthon auf ihren Sockeln hinter sich, umkreist das Rathaus. Was reizt einen ehemaligen Funktionär am Bürgermeisterstuhl? Leere Kassen, Arbeitslose und ein Orchester, das den Geist aufgibt? Dübner redet von „sachbezogenen Themen“, von Abwasser, von Privatisierung kommunaler Betriebe, vom Thierse-Papier und dessen düsterem Bild, der Osten stehe auf der Kippe. Jetzt beschwört Horst Dübner seine Harmonie: „Wenn wir eine Koalition der Vernunft nicht hinkriegen, müssen wir irgendwann fragen, wer knipst im Osten das Licht aus?“ Die Koalition der Vernunft. Das stand auch auf Transparenten und im Neuen Deutschland, damals bei Honecker. Es ging um Raketen und Abrüstung. Horst Dübner hat dieses Wort aus der SED-Kreisleitung mitgebracht. Es passt gut, klingt nach Verantwortung, ist parteiübergreifend. Auch Dübners Sozialismusvision dürfte mehrheitsfähig sein. „Das, was wir haben, kann nicht das letzte Wort der Geschichte sein.“

Horst Dübner geht zum PDS-Büro zurück. Elf Jahre lang war er auf Bewährung, am 6. Mai wird abgestimmt. Jede Dübner-Stimme eine Bestätigung und vielleicht ein Murmeln dazu: Es war nicht alles schlecht. Und nicht alle. Damals. „Hat doch einer gesagt, das sei ja so, wie wenn man Erich Mielke zum Chef der Gauck-Behörde machen würde!“ Horst Dübner ist empört, bleibt aber freundlich. Dübner und Mielke? Das sicher nicht. Doch Gregor Gysi als Regierender Bürgermeister von Berlin? Und die Genossen Eißler und Dübner? Es ist wie der Griff nach Ostprodukten, nach Nudossi, Spee und Bautzner Senf. Die haben zwar keine Aura, enttäuschen aber auch nicht. Und wandern langsam im Regal nach oben.