Note 5 für die deutsche Politik

Sozialdemokraten und Umweltexperten fachsimpeln über den Begriff Nachhaltigkeit

BERLIN taz ■ Draußen knallte den ganzen Montag die fröhlichste Frühlingssonne auf Berlin, und drinnen im Reichstag mussten mehr als 400 SPD-GenossInnen und Umweltfachleute darüber brüten, was eigentlich Nachhaltigkeit ist. Irgendwie habe das doch auch mit Genuss und gutem Leben zu tun, wandte auf der ganztägigen Konferenz, organisiert von der SPD-Bundestagsfraktion, manch eine zarte Stimme ein. Aber ist es genussvoll nachhaltig, trotz Sonnenscheins im Kunstlicht zu kauern und das Einschlafen mit Kaffee und Sahne aus Einwegdöschen zu bekämpfen? Ist es nachhaltig genussvoll, Reden für eine bessere Ernährung und mehr Respekt vor den Tieren zu schwingen und mittags an Bockwurst mit Weißmehlbrötchen zu kauen?

Davon mal abgesehen hatten sich die SozialdemokratInnen sicherlich eines wichtigen Themas angenommen. Seit dem UN-Umweltgipfel 1992 versuchen ÖkologInnen, das Wort „Nachhaltigkeit“ im politischen Diskurs zu verankern. Ohne Erfolg: In Umfragen wissen ganze 13 Prozent der Bevölkerung mit dem Begriff etwas anzufangen.

In der Berliner Konferenz ging es nicht zuletzt darum, Nachhaltigkeit politisch zu definieren. Hans Martin Bury, SPD-Staatsminister im Bundeskanzleramt, reihte hier Kaltwörter wie „technische Innovation“ und „Effizienzrevolution“ aneinander. Ökologie und Ökonomie wiedersprächen sich nicht, nachhaltige Ökonomie zeichne sich durch „Win-win-Strategien“ aus, behauptete Bury wieder einmal. Eine Bemerkung, der die für den Nachhaltigkeits-Rat nominierte BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt nachhaltig widersprach: „Da machen wir uns was vor.“ Dennoch versprach der Staatsminister, Nachhaltigkeit werde nunmehr „zum roten Faden des Regierungshandelns“.

Ob die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Borchart, Vorsitzende der „Querschnitts-Arbeitsgruppe Nachhaltige Entwicklung“, etwas von Nachhaltigkeit als „Reformpolitik in bestem Sinne“ in den Saal nuschelte oder SPD-Generalsekretär Franz Müntefering donnerte, Nachhaltigkeit bedeute auch „Fortschritt“ und „Lebensqualität“ – die Zuhörenden nahmen alles brav und scheinbar regungslos auf. Nachhaltigkeit sei der Versuch, definierte wiederum SPD-Umweltexperte Michael Müller, „Zusammenhänge und Wertorientierung in einer immer mehr in Spezialisierungen zerfallenden Welt zu schaffen“ und „eine neue große Geschichte zu erzählen, die den Menschen Sicherheit gibt“. Die Globalisierung sei ein „Epochenbruch“, die von Klimaexperten vorausgesagte Erderwärmung von bis zu 5,6 Grad sei „revolutionärer als der ganze BSE-Skandal. Aber niemand begreift das.“

Spannender als diese vergeblichen Definitionsversuche waren die Diskussionen in den sechs Arbeitsgruppen. Im Workshop „Umwelt, Gesundheit und Ernährung“ schockierte der Berliner Zukunftsforscher Sven Sohr mit der Mitteilung, in Europa werde doppelt so viel Nahrung hergestellt wie verbraucht. Besonders in Werkskantinen, Krankenhäusern und Restaurants werde enorm viel weggeworfen. Auf der anderen Seite könnte die gesamte deutsche Agrarwirtschaft auf Ökolandbau umgestellt werden, wenn die VerbraucherInnen rund 20 Prozent weniger Fleisch, Milch und Eier und dafür mehr pflanzliche Nahrung verzehren würden. Der Zukunftsforscher hatte außerdem 60 renommierte Öko-Experten gebeten, das Umwelthandeln verschiedener Bereiche zu benoten. Die Wirtschaft erhielt im Durchschnitt die Note 5, die Medien die Note 4 und die Politiker ebenfalls eine 5. Gesamturteil: Deutschland gehe ökologisch gesehen „ stark versetzungsgefährdet ins 21. Jahrhundert“. UTE SCHEUB