Revolte per Handy im Höllenknast

In Brasiliens Bundesstaat São Paulo geht die Polizei gegen Häftlinge vor, die in den überbelegten Gefängnissen meutern und tausende Besucher als Geiseln genommen haben. Regierung macht kriminelle Bande für den Aufstand verantwortlich

von SVEN HANSEN

Die brasilianische Polizei hat gestern in 16 der 24 betroffenen Gefängnissen des Bundesstaates São Paulo eine am Sonntag ausgebrochene Häftlingsrevolte gewaltsam beendet. Die Meutereien und ihre Niederschlagung forderten mindestens elf Todesopfer. In der größten Haftanstalt Carandiru dauerten die Verhandlungen der Behörden mit den Aufständischen an. Diese fordern einen vollständigen Abzug der Polizei und die Zurückverlegung von Gefangenen.

Im mit 8.000 Insassen größten Gefängnis Lateinamerikas hielten Aufständische gestern noch etwa 3.000 Menschen als Geiseln, darunter rund 1.200 Kinder, fest. Die Polizei besetzte einige Dächer und den zentralen Gefängnishof, nicht jedoch die neun umliegenden Trakte, in denen sich die Meuternden mit ihren Geiseln verschanzten. Aus den vergitterten Fenstern hingen weiße Tücher mit Aufschriften wie „Frieden“ und „Gerechtigkeit“. Zeitweilig brannten einige Gebäude.

Bei den Geiseln handelt es sich zum Großteil um Familienangehörige und Freunde von Gefangenen, die am Sonntag zur wöchentlichen Besuchszeit gekommen waren. Dabei dürfen sie die Zellen besuchen und mit den Gefangenen zusammen essen.

Einige Angehörige verbrachten freiwillig die Nacht im Gefängnis, um die Polizei von einem gewaltsamen Sturm auf die Haftanstalt abzuhalten. Unter den Geiseln soll auch die in Brasilien bekannte Popsängerin Simony sein, die mit einem einsitzenden Exrapper und Drogenboss liiert ist. In der Hand der Aufständischen befinden sich auch etwa 50 Wärter. Vor der Haftanstalt versammelten sich gestern Angehörige, die zum Teil die dort postierten Polizisten mit Gegenständen bewarfen.

Bei den Meutereien und ihren anschließenden Niederschlagungen wurden nach Behördenangaben bisher neun Häftlinge von Mitgefangenen getötet und zwei durch Wärter in Carandiru. Eine Geisel beschuldigte die Polizei, drei Gefangene hinterrücks erschossen zu haben.

Der Sicherheitsminister von São Paulo, Marco Vinicio Petrelluzzi, macht für den Aufstand eine kriminelle Gruppe namens „Erstes Kommando der Hauptstadt“ (PCC) verantwortlich. Die Bande habe damit gegen die Verlegung von zehn ihrer Anführer protestieren wollen, die am Freitag vom Gefängnis Carandiru als Reaktion auf mehrere ihnen zur Last gelegte Gefängnismorde in andere Anstalten gebracht worden seien. Gefangene malten während des Aufstands die Buchstaben PCC auf die Mauern des Carandiru-Gefängnisses, das als Bandenzentrale gilt.

Mit der Verlegung der Anführer sollte deren Macht und Fähigkeit gebrochen werden, mit Hilfe eingeschmuggelter Handys weiterhin aus dem Gefängnis heraus ihre Banden dirigieren zu können. Per Handy wurden wahrscheinlich auch die jetzigen Aufstände koordiniert. Die 1993 gegründete Bande PCC, die über eigene Rituale verfügen soll, hat mindestens 1.500 Mitglieder. PCC soll den Drogenhandel in den Gefängnissen kontrollieren und wird für viele Morde sowie Schutzgelderpressungen verantwortlich gemacht.

Dass die Revolten unter den Häftlingen ein so großes Echo fanden, ist auch auf die miserablen Haftbedingungen zurückzuführen. Bereits mehrfach kam es in den 500 Gefängnissen des Landes zu Aufständen. In Carandiru starben 111 Insassen im Oktober 1992, als die Militärpolizei einen Aufstand brutal niederschlug.

Brasiliens Haftanstalten sind chronisch überbelegt. Im Schnitt kommen auf einen Platz 2,5 Häftlinge. Hinzu kommen Misshandlungen duch die schlecht bezahlten und oft korrupten Wärter.

Ein Kommission des Parlaments hatte das brasilianische Gefängnissystem erst kürzlich als „Neuerfindung der Hölle“ bezeichnet.