„China hat zu Boney M. getanzt“

Der Forumsfilm „Zhan Tai“ – „Platform“ beschreibt, wie China in den 80ern von der westlichen Popkultur verändert wurde. Regisseur Jia Zhang-ke über Propagandatheater, Ökokampagnen und Dschingis Khan

Interview KATJA NICODEMUS

Vor drei Jahren war Jia Zhang-kes vom Forum eingeladener Debütfilm „Xiao-Wu“ der Geheimtipp der Berlinale. Nach dieser traurigen Geschichte eines kleinen Taschendiebs hat Zhang-ke nun einen dreistündigen Ensemblefilm gedreht, der sich über ein ganzes Jahrzehnt der chinesischen Geschichte erstreckt. In „Zhan Tai“ („Platform“) geht es um eine Theatertruppe in der chinesischen Provinz, die Ende der 70er-Jahre ausschließlich Parteipolitik auf die Bühne bringt. Doch auch in den verschlafenen Kleinstädten zeigen sich bald die ersten Zeichen des Umbruchs: Dauerwellen, neue Zigaretten, westliche Schlager wie „Dschingis Khan“. Als die Regierung in den Achtzigern das Interesse am Propagandatheater verliert, müssen die Schauspieler auf einmal allein klarkommen. Diese Desorientierung hat aber auch ihre Vorteile: In einer Welt, in der es plötzlich erlaubt ist, Love-Songs zu hören, verändert sich auch das Gefühlsleben von Zhang-kes Helden.

taz: Nachdem Sie in Ihrem Debütfilm „Xiao-Wu“ ganz nah am Leben eines einzelnen Taschendiebs blieben, erzählen Sie jetzt die Geschichte einer ganzen Theatertruppe über zehn Jahre hinweg. Warum der Wechsel ins andere Extrem?

Jia Zhang-ke: In „Xiao-Wu“ ging es um eine Auseinandersetzung mit der chinesischen Gegenwart, der Film wurde sehr spontan und unaufwendig gedreht. „Platform“ hingegen schildert die unglaublichen sozialen und politischen Umbrüche, die China in den letzten zehn Jahren durchgemacht hat. Wir sind eine andere Gesellschaft geworden, das Land hat eine andere Wirtschaftsstruktur und sich ansonsten eindeutig in Richtung Popkultur verändert. Um das zu erzählen, braucht man einen größeren, komplexeren Entwurf.

Sie folgen einer propagandistischen Theatertertruppe, die zu Beginn noch Mao verherrlicht. Wie spiegeln sich die Veränderungen in den Aufführungen wider?

Diese Truppe ist das ideale Medium, um den tief greifenden Wandel des politischen Klimas darzustellen. Ende der Siebziger zum Beispiel schrieb die Regierung Inhalt und Art der Aufführungen noch genau vor, damals bezahlte sie auch die Schauspieler. Wenn es zum Beispiel eine neue Kampagne zur Geburtenkontrolle gab, dann musste das gespielt werden. Oder auch eine ökologische Kampagne zum Pflanzen von Bäumen – auch wenn das dramaturgisch bestimmt nicht gerade sehr reizvoll war. Als sich die Regierungslinie in den Achtzigern dann mit der Politik der offenen Tür langsam liberalisierte, veränderte sich auch die wirtschaftliche Situation radikal. Die Schauspieler dieser Truppen wurden plötzlich nicht mehr bezahlt und mussten sich ihre Themen auf einmal selbst suchen.

Das Schöne an „Platform“ ist, dass man sich die politischen Informationen und Anspielungen in den unglaublich langen Einstellungen ganz allmählich selbst zusammensuchen muss. Ich liebe diese ruhigen, von fern aufgenommenen Einstellungen. Sie erzeugen das Gefühl einer Objektivität bzw. zumindest einer Unparteilichkeit. Jede einzelne Einstellung fordert sozusagen zur Lektüre heraus, und es passiert viel, wenn man lange genug hinschaut.

Was ist der wichtigste Unterschied zwischen dem heutigen China und der Periode, die Sie in Ihrem Film beschreiben?

Die Achtziger waren eine unglaublich spannende Zeit, alles lockerte sich, wir hatten plötzlich das Gefühl, mit der Subkultur der westlichen Popmusik zu einer anderen Welt zu gehören. Es kursierten Musikkassetten mit den Songs von Teresa Teng; Nietzsche und Freud, sogar Werke der erotischen Literatur wurden übersetzt. In der Luft lagen eine merkwürdige Aufbruchstimmung und viel Hoffnung. Stellen Sie sich vor, in den Achtzigern mussten junge Menschen jede Liebesaffäre eigentlich noch der Partei mitteilen.

Für einen westlichen Zuschauer ist es sehr überraschend, zu sehen, dass die chinesische Jugend in den Achtzigerjahren zu Schlagern wie „Dschingis Khan“ von Boney M. getanzt hat. Haben Sie diese Musik auch ein bisschen im Hinblick auf das westliche Publikum verwendet?

Natürlich finde ich es schön, dass dieser Popsong in beiden Kulturkreisen mit einer ganz bestimmten Zeit assoziiert wird. Die Wahl dieses Lieds geschah aber nicht willkürlich. In China gibt es ungefähr zweimal im Jahr einen Hit, den jeder kennt, weil er in allen Restaurants, Bars und Diskotheken gespielt wird. Und zwar rund um die Uhr und ausschließlich. „Zhan Tai“ – „Platform“ war auch eines dieser Lieder. Und wenn ich heute „Dschingis Khan“ höre, denke ich ganz automatisch an einen ganz bestimmten Sommer zurück; so ergeht es vielen Chinesen meiner Generation. Ganz China hat zu diesem Lied getanzt.

Ihren Film „Xiao-Wu“ mussten Sie vor drei Jahren noch in einer Hutschachtel aus China herausschmuggeln, weil Sie Probleme mit der Zensur hatten. Gab es auch bei „Platform“ Schwierigkeiten?

Durchaus.