Die Invasion der Eisbären

Jedes Jahr ab Mitte Oktober fallen in der Hudson Bay in Kanada Hunderte von Eisbären zum großen Fressen ein. Für die Touristen ist es ein tierisches Vergnügen, für die Einheimischen nicht immer, wenn der eigene Kühlschrank dran glauben muss

von BIRGIT-CATHRIN MAIER

Churchill, das ist ein kleiner Ort hoch im Norden Kanadas, an der Hudson Bay gelegen. Weit entfernt von Manitobas Provinzhauptstadt Winnipeg. So weit, dass nicht einmal eine Straße dorthin führt. Wer in die abgeschiedene Siedlung möchte, dem bleibt die Wahl zwischen Schiene oder Luft. 1.600 Kilometer, zweieinhalb Tage mit dem Zug oder zweieinhalb Stunden mit einem kleinen Propellerflugzeug.

„Churchill – entweder man liebt es oder man hasst es“, sagt Denise, meine Sitznachbarin im Flugzeug. Seit 12 Jahren lebt sie dort. Eine zierliche Frau mittleren Alters, mit Nasenstecker und Ohrringen. Früher arbeitete sie als Buschpilotin ganz im Norden und beförderte Jäger und Fischer zu entlegenen Hütten. Heute fährt sie Touristen mit einem alten Schulbus durch ihre Stadt.

Je näher Churchill an diesem Morgen rückt, desto mehr Wolken ziehen auf. Auch unten in der 800 Einwohner zählenden kleinen Siedlung beginnt es, eng zu werden. Die 130 Betten in den sechs Hotels und Bed&Breakfast sind bereits seit Monaten ausgebucht. Wer dieser Tage nach Churchill kommt, hat nur ein Ziel: die Eisbären sehen. Jedes Jahr versammeln sich ab Mitte Oktober rund um Churchill Hunderte von Eisbären, um das Zufrieren der Hudson Bay abzuwarten. Nicht umsonst nennt sich Churchill stolz „Polar Bear Capital of the World“, die Eisbärenhauptstadt. Und es ist Jagdsaison: Touristen wollen tolle Fotos schießen von tollen Eisbären, die mit sprichwörtlichem Bärenhunger überall herumlungern. Den Sommer haben die größten Landraubtiere der Erde in der Tundra verbracht, wo ihre bis zu elf Zentimeter dicke Fettschicht schrumpfte. Während der Sommermonate gab’s höchstens Beeren, jetzt wollen sie auf den Eisschollen nach Robben, ihrem Hauptnahrungsmittel, jagen.

Eisbären verfügen über einen ausgesprochen sensiblen Geruchssinn – Robben können sie auf eine Entfernung von über 20 Kilometer riechen. Die intensiven Ausdünstungen von Churchills Müllkippe zieht die Bären an wie eine Straßenlaterne Motten. Und nicht selten marschiert einer der bis zu 600 Kilogramm schweren und bis zu zweieinhalb Meter großen Tiere der Gattung „Ursus maritimus“ durch die Straßen. Sogar bis auf Denises Veranda, wie sie mir erzählt. Im Winter, wenn die Temperatur bis auf minus 40 Grad sinkt.

Es schneit, als wir landen. Eine Landschaft, so einsam wie auf dem Mond. Unten bläst uns der Wind um die Ohren, als wir zum Flughafengebäude marschieren. Es ist, gemessen an mitteleuropäischen Verhältnissen, saukalt. Das kleine Städtchen inmitten der Tundra besitzt einen ruppigen Charme. Ein paar Containerhäuser, eine Hand voll Kneipen, Shops und Souvenirläden. Nicht schön, dafür ist alles einfach, schlicht, funktionell.

Früh morgens klappern Busfahrer alle Hotels ab, um die Polar Bear Watchers zu den Tundra-Buggys zu bringen. In den großen, gepanzerten Fahrzeugen mit überdimensionalen Reifen geht es in den größten arktischen Drive-Inn-Zoo. Ausgestattet mit Toilette und Heizung, Bordverpflegung inklusive. Wie amphibische Käfer kriechen die Fahrzeuge vorwärts. Am allerwenigsten scheinen die Eisbären von den monströsen Fahrzeugen beeindruckt. Im Gegenteil – sie haben ihren Spaß, um die Fahrzeuge zu tappen und sich dann hin und wieder zur Freude aller Eisbärenbeobachter aufzurichten und neugierig in die Kameras zu stieren. Wenn man dann nur noch ein nebliges Weiß im Sucher seiner Kamera sieht, dann ist der Bär verdammt nah dran. Viel zu nah fürs Objektiv. Man blickt in ein drolliges Hundegesicht mit sanften braunen Augen. „Ach, ist der aber süüüß!“.

Ja, putzig sind sie, aber wehe dem, der ihnen in die Hände fällt. Abends beim Bier in einer der Kneipen kann man sich von den Einheimischen Bärenlatein aufbinden lassen. Trotz der vielen Bären ist es erstaunlicherweise zu wenigen Todesfällen gekommen. Zuletzt 1982, als ein alter Mann nachts in einem abgebrannten Hotel noch ein paar Hamburger im Kühlschrank fand und damit buchstäblich zum gefundenen Fressen für einen Eisbären wurde.

Ab Mitte Oktober gilt in der Stadt eine Art Ausnahmezustand. Grüne Schilder mit der Aufschrift „Polar Bear Alert“ warnen vor möglichen Gefahrenzonen, wo sich Eisbären aufhalten. Ist einer gesichtet, wird unverzüglich 675-2327 gewählt – die Eisbärennotrufnummer. Eisbären auf der Müllkippe und auf Suche nach Fressbarem sind unberechenbar. Im Fall der Fälle werden die Eisbären betäubt und in den Polar Bear Compound, ins Eisbärengefängnis, gebracht. Bis zu 40 Tiere fassen die Wellblechbaracken in der Nähe des Flughafens. Sobald die Hudson Bay zufriert, werden sie per Helikopter aufs Eis geflogen. Doch noch ist die Bay nicht zugefroren, und die Bären werden immer unruhiger – und hungriger.

Dieses Jahr war es mit knapp unter null Grad viel zu warm. Nicht nur die Einwohner Churchills sind besorgt. Wissenschaftler, die die rund 1.200 Eisbären an der Hudson Bay beobachten, stellten fest, dass sie mager geworden sind. Zwischen 80 bis 90 Kilogramm sind die Bären leichter als noch vor 15 Jahren, eine Folge des globalen Klimawechsels. Die Zeitabschnitte, in denen die Bay im Herbst zufriert und im nächsten Frühjahr wieder schmilzt, werden immer kürzer. Und den Bären bleibt immer weniger Zeit, sich auf dem Eis genügend Fett für den Rest des Jahres anzufressen. Wie sehr das Wetter auf die Bären einwirkt, zeigte der Ausbruch des Vulkans Pinatubo 1991 auf den Philippinen. Staub und Aschepartikel in der Atmosphäre sorgten für eine Abkühlung. Im kommenden Jahr schmolz das Eis einen Monat später, und schon waren die Eisbären wieder größer, schwerer und bekamen mehr Nachwuchs.