AKW spaltet Taiwan

Oberstes Gericht, Premierminister und Parlament streiten über AKW-Baustopp. Der wird immer unwahrscheinlicher

BERLIN taz ■ Das politische Tauziehen um Taiwans umstrittenen vierten Doppelreaktor geht in eine neue Runde. Das Oberste Gericht des Landes hat gestern entschieden, dass Premierminister Chang Chun-hsiung vor Verkündung des Baustopps am 27. Oktober vergangenen Jahres dem Parlament die Gelegenheit zur Debatte und Abstimmung hätte geben müssen. Denn der Baustopp sei „eine Umkehr einer wichtigen nationalen Politik“. Im so genannten Legislativ Yuan hat die Opposition die Mehrheit. Sie ist für den Bau des auf 5,4 Milliarden US-Dollar veranschlagten AKWs, das zu einem Drittel fertig gestellt ist.

Laut taiwanischer Nachrichtenagentur CNA bezeichnete das Gericht den von Chang verhängten Baustopp jedoch nicht wie von der Opposition erhofft als verfassungswidrig. Dann hätte der erst seit Oktober amtierende Chang wohl zurücktreten müssen. Das Gericht räumte ihm vielmehr die Möglichkeit ein, die Parlamentsabstimmung nachholen zu lassen. Zugleich rügten die Richter auch die Opposition, weil sie Chang daran gehindert hatte, seinen Baustopp vor dem Parlament zu begründen.

Mit dem gestrigen Urteil steht die Entscheidung über das AKW wieder am Anfang. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse – die regierende Demokratische Fortschrittspartei stellt nur 66 der 220 Abgeordneten – gilt eine Zustimmung des Parlaments zum Baustopp als unwahrscheinlich. Sollte es zu keinem Kompromiss kommen, könnte die Regierung das Parlament auflösen oder aber das Parlament den Weiterbau durchsetzen. Eigentlich hatte die Regierung das Gericht angerufen, um sich die Verfassungsmäßigkeit des Baustopps bestätigen zu lassen.

Der vierte Doppelreaktor ist Taiwans umstrittenstes Projekt. Bereits 1982 wurde mit Bauvorbereitungen begonnen. Nach dem GAU von Tschernobyl 1986 und nach der Demokratisierung Taiwans wurde der Widerstand gegen die Atomenergie immer stärker. 1996 bewilligte das Parlament das Budget, im März 1999 begann der Bau.

Im Mai 2000 kam mit Präsident Chen Shui-bian jedoch erstmals die Opposition an die Macht, die aus der Atomenergie aussteigen will. Weil der direkt gewählte Präsident auf keine Parlamentsmehrheit zurückgreifen kann, ernannte er einen Premier von der früher allein regierenden KMT. Dieser trat jedoch im Oktober im Streit um das AKW zurück. Seitdem versucht der neue Premier Chang den Baustopp gegen das Parlament durchzusetzen. SVEN HANSEN