Städtefolklore in der Schwebe

Wie sitzt es sich in Buenos Aires, Bogotá und Mexiko-Stadt? Das recherchierte der Architekt und Künstler Erik Göngrich für seinen 600-Seiten-Interview- und Bildband, den er in der Galerie plattform vorstellte. Um Möbel geht es aber nur am Rande: Das Sitzen ist Metapher für Sesshaftigkeit und Wandel

von HARALD FRICKE

Die Betonbank im Park ist rosafarben angestrichen, der Platz im Altstadtviertel sieht wie ein überdimensionales Schwimmbad aus, die roten Plastikschalensitze im Café erinnern an die Apotheose am Ende von „Pulp Fiction“. So geht es lustig weiter: 81 Bilder hat Erik Göngrich im Dia-Karussell. Dazu liest er mit einer Frau im Wechsel aus ein paar Dutzend Interviews vor, die von ihm während eines dreimonatigen Südamerika-Aufenthaltes geführt wurden: Alltagsbeobachtungen aus Buenos Aires, Bogotá und Mexiko-Stadt. Sehr liebevolle Beschreibungen vom Leben in Städten, neben denen Berlin wie ein Zwerg wirkt.

Sonst verläuft die Bewegung eher umgekehrt. Seit Mauerfall wird ständig ein neues, urbanes und offenes Berlin gepriesen, das sich als Drehscheibe für den Rest der Welt anbietet. Auch die kulturellen Diskurse um Zentrum und Peripherie kamen dieser Neuzuordnung entgegen: Immer mehr KünstlerInnen aus Afrika, Asien oder Südamerika wurden mit der letzten documenta von Catherine David oder der Biennale in Lyon auf dem globalen Kunstmarkt etabliert.

Göngrich kümmert sich nicht um solche Probleme des Transfers. Stattdessen untersucht der 1966 geborene Architekt und Künstler, wie man im Ausland sitzt. Das zumindest ist der Titel seines ziegelsteinförmigen Bild- und Gesprächsbuchs, dass am Wochenende bei „plattform“ vorgestellt wurde. Mit Sitzgelegenheiten hat Göngrich ohnehin reichlich Erfahrungen gesammelt: Sein Mobiliar für Kinder war vor ein paar Jahren im Pavillon der Volksbühne zu sehen, und für eine Ausstellung in Buenos Aires hatte er einen Raum mit modernistischen Würfeln als Lounge umgestaltet. Dort war Göngrich auch mit südamerikanischen Architekturgruppen ins Gespräch gekommen, in deren weiterem Umfeld er seine Recherche startete.

Möbel tauchen aber nur auf wenigen Fotos auf. Viel mehr interessiert sich Göngrich für das Sitzen als Metapher: Zugleich ist es Sinnbild für die Sesshaftigkeit, sprich: kulturelle Verankerung der Befragten, aber auch ein Zeichen für die Flüchtigkeit, mit der sich Konstellationen im öffentlichen Raum ergeben. So kommt man etwa in Bogotá privat zusammen, weil das Leben draußen auf der Straße viel zu gefährlich geworden ist.

Dieser Gegensatz ist durchaus symptomatisch. Während man hierzulande gerade mit südlichen Ländern ein unermüdliches urbanes und soziales Leben verbindet, wird dort Öffentlichkeit nach ganz anderen Regeln gespielt. Die drei von Göngrich untersuchten Metropolen jedenfalls haben Raum weitgehend durchökonomisiert: Außer in Parkanlagen kann man sich fast nirgends mehr zurückziehen. Wo eben noch Wege zum Strand führten, werden heute Hotelkomplexe gebaut. Dass sich Göngrichs Gesprächspartner in diesem Umfeld nicht sonderlich wohl fühlen, mag an der Auswahl liegen – viele Akademiker, aber keine Normalbevölkerung.

Was dabei an Erfahrungen von unten verloren geht, wird von Göngrich durch die Fotos wieder reingeholt. Seine bald 600 Dokumentaraufnahmen reichen quer durchs Stadtbild: Mal stromert Göngrich durch die Hochhausviertel von Buenos Aires und staunt über den strengen Modernismus der Klötzchenbauweise, die Südamerika in den Fünfzigern geprägt hat. Dann wieder stolpert er über die verwirrende Buntheit, mit der sich das alltägliche Leben um Straßenbüdchen und schrille Dekofassaden ausbreitet: Offenbar wird tagsüber jeder Winkel und jede Ecke zu einem Minikosmos von Händlern, Handwerkern und anderen Dienstleistern. Da ist es dann wieder, das Klischee vom munteren südländischen Treiben. Solche Stereotypen kontert Göngrich aber formal aus, indem er diesen Aufnahmen die kantige Bauweise der Architektur gegenüberstellt. Auch in den Texten bleibt das Verhältnis zur Städtefolklore in der Schwebe: Wer hätte schon gedacht, dass ein Befragter aus Mexiko-Stadt unter Erotik im öffentlichen Raum ausgerechnet die Sicherheit versteht, die ihm eine starke Polizeipräsenz auf der Straße gewährt?

Erik Göngrich: „Sitzen im Ausland“. 528 S., 28 DM (Zu kaufen bei Pro qm, Bücherbogen, Buchhandlung Walter König oder über goengrich@gmx.net)