Lichtgestalt grüßt Leitermann

Leicht erstaunt und sehr erfolgreich malt Neo Rauch, was ihm an Beziehungslosigkeit zwischen Menschen auffällt. Sein „Randgebiet“ ist in Leipzigs Galerie für zeitgenössische Kunst zu sehen

von SUSANNE ALTMANN

Eine dünne Rauchsäule kräuselt sich viel sagend am Leipziger Abendhimmel auf dem Weg zur Villa am Zetkin-Park, die mit Elan und Biss das künstlerische Profil der Region geschliffen hat. Aber das gab es während der Existenz der Galerie für Zeitgenössische Kunst seit 1997 noch nicht: Einem einzigen Künstler, noch dazu einem einheimischen Maler, wird die gesamte Ausstellungsfläche auf beiden Stockwerken gewidmet. Sein Name ist Rauch, Neo Rauch! – und hier klärt sich die Verwunderung. Stieg dieser nicht in den letzten fünf Jahren signalhaft über so manchem auch transatlantischen Kunstknotenpunkt auf?

Klaus Werner, scheidender Gründer des Hauses und Kurator der Ausstellung, hinterlässt mit „Randgebiet“ ein veritables Abschiedsgeschenk. Gleichzeitig ist die Rauch-Retrospektive ein Statement, das alle Vorwürfe entkräftet, man habe sich bislang zu heftig um nichtregionale Kunst gekümmert und das nähere Umfeld vergessen. Tatsächlich entstammt der 1960 geborene Rauch Leipzigs Hochschule für Grafik und Buchkunst, jener einst berühmt-berüchtigten Malerwiege, deren Großmeister sich, wie kürzlich beim Nürnberger Sitte-Skandal, unvermindert für Schlagzeilen eignen. Rauch verbrachte hier zwischen Lehrzeit und Lehrtätigkeit ganze siebzehn Jahre, neun davon unter der Obhut von Arno Rink und Bernhard Heisig.

In den Gemälden der 90er-Jahre ist allerdings kaum mehr etwas von Rauchs Ausbildung an der klassischen „Leipziger Schule“ zu spüren, lässt man einmal das Festhalten an der Figuration und die handwerkliche Perfektion beiseite. Dabei soll Rauch nach eigenem Bekunden in seiner Frühphase kurz vor dem Abgleiten ins Informel noch einmal „die Kurve gekriegt“ haben – und so sind derartige Ausbrüche hier nicht mehr zu sehen.

Die Auswahl der Werke setzt erst im Jahre 1993 ein, als Rauch bereits „Kurskorrekturen“ vorgenommen und aus den „Farbschlieren heraus Wesen“ gefischt hatte. Der kreative Kampf wurde sublimiert und bedient sich heute klarer Linien und eines anderen Forums – gerne auch mal eines ganz buchstäblichen Boxrings wie auf „Märznacht“ aus dem vergangenen Jahr. Dort begegnen sich die Kontrahenten mit Paletten bewaffnet, während der Ringrichter von dem flauschigen Hundewesen „Hirt“ gegeben wird. In einer anderen Version der Binnenkrise des Künstlerdaseins liegt der Boxer scheintot am Boden, flankiert von personifizierten Lehrmeinungen und Ikonen der jüngsten Kunstgeschichte.

Rauch erzählt mit Lust Anekdoten, fabuliert, zweifellos auch autobiografisch, über die Verstrickungen des Schöpfertums. Und mit ebensolchem Vergnügen verweigern sich andere seiner Arrangements vehement einer konkreten inhaltlichen Botschaft. Wie um dies auf die Spitze zu treiben, engagieren sich in zahlreichen Arbeiten Dienstleistungstreibende und sonstige Werktätige in sinn- und zweckfreien Tätigkeiten.

Dieses emsige Schaffen wird von manchen Interpreten gerne mit dem dubiosen Stellenwert der Arbeit im Zeitalter des Fünfjahresplanes assoziiert – als würde der Maler damit auf DDR-Historie anspielen. Auch will man in den Gebäudegruppen, die häufig wie Modelle oder Pappkulissen wirken, vorrangig die Leipziger Industrielandschaft erkennen. Gelegentlich wird immerhin Edward Hopper als Referenz genannt; außerdem sollte vor allem aber die offensichtliche Verwandtschaft zu den nordamerikanischen Architekturen und den tiefen Horizonten eines Ed Ruscha oder John Baldessari nicht übersehen werden.

Vor zentralperspektivischen Hintergründen, manchmal auch in einer synthetisch scheinenden Natur, agieren bei Rauch ebenso sorgfältig frisierte wie unzeitgemäß ausstaffierte Akteure und Aktricen. In seinen mächtigen Cartoons ohne Pointe paraphrasiert der Maler, wie nebenbei und leicht erstaunt, zwischenmenschliche Beziehungslosigkeit, die man in diesem Teil Deutschlands eben nicht mit der Muttermilch eingesogen hat. Paradoxerweise mag hier sein stärkster Zeitbezug liegen, und hier löst sich auch der Irrtum von Ironie oder gar Witz, die seinen Werken bisweilen attestiert werden – verführt von der comichaften Farb- und Formenwelt. Neo Rauch ist es ernst mit sich und der Welt, selbst wenn sich im Werksgelände oder an der Tankstelle perspektivisch verkleinerte Figuren à la Gulliver finden und sich der Spieltrieb an spielzeugkleinen Lastzügen erfreut. Derart bühnenhafte Szenerien bestückt der Maler aus einem gleichsam kanonischen Fundus an Requisiten, die in immer neuen Kombinationen überraschen. Da sind sportliche Shortsträger, die auch als Stockkämpfer rangeln; da ist die Farbpalette, die sogar als Baumpilz wächst und neuerdings als Fellutensil prähistorische Züge annimmt; da ist das uniforme Knopfgesicht, und da sind andere Symbole von einigem Wiedererkennungswert.

Doch das visuelle Spiel mit Versatzstücken hat seine Tücken: Ist das Prinzip einmal erkannt, kann es sich abnutzen. Warnschilder mit dem Piktogramm für Sackgasse sucht man jedenfalls vergebens. Bisweilen, wie von einem gewissen Horror Vacui gesteuert, erscheinen die ikonografischen Bausteine wie Füllwerk, vor allem in den dichten Kompositionen des letzten Jahres. Insofern bieten die „Anima“-Folge von 1995 und zwei kreisrunde Ölzeichnungen aus dem Jahr 1993 ein wenig Abwechslung, sowohl in ihrer reduzierten Ikonografie und Farbigkeit als auch in ihrer holzschnitthaften Textur.

Hier bricht, fast unvermittelt, ein ganz anderer, auch rühmlich regionaler Verweisrahmen auf: zu Gerhard Altenbourgs Holzschnitten, zu Grafiken der Chemnitzer Gruppe „Clara Mosch“ oder gar zu den frühen Arbeiten des Carsten Nicolai. Mit der Wahl dieser „Scheibenbilder“ bezeugte Kurator Werner seine Vorlieben und widmete dem Duo einen eigenen Raum. Hier hätte sich über den verglasten Lichtschacht der Galerie auch der Raumbezug zu „Regel“, der allerneuesten Scheibe aus dem letzten Jahr, herstellen können. Dieser Kontakt wird nun mutwillig gebrochen durch „Hirt“, das bewusste Puscheltier, das bislang als gemalter Protagonist oder als Beiwerk wirkte.

„Hirt“ mit dem leicht gequälten Menschenantlitz erfährt im handtuchschmalen Innenhof eine Aufwertung als Lichtgestalt im Wortsinn. Weist diese Leuchtfigurine, wie auch die jüngste Installation eines Leitermannes im Bundestag, auf eine neue, skulpturalere Richtung in Neo Rauchs Werk hin? Doch da wird wohl keine radikale Änderung zu erwarten sein. Zumal nicht, nachdem sich die Malerei, und besonders die sächsische, von Tiefschlägen in Prestige, Qualität und Marktwert ebenso erholt hat wie der stämmige Boxer vom K.-o.-Schlag. Und Meister Rauch erklärt seinen persönlichen Erfolg mit gewissermaßen kunstdarwinistischer Standhaftigkeit: „Wer sich durch irgendwelche Schwätzer den Pinsel aus der Hand schlagen lässt, ist sowieso kein wirklicher Maler.“

Bis 25. 2., Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, danach Haus der Kunst, München, und Kunsthalle Zürich; der Katalog „Randgebiet“ mit Beiträgen von Th. Wagner, B. Schwenk, H. v. Amelunxen, H. Kunde, 144 S., kostet 32 DM