Grünes Gift der Hoffnung

Wahre Lokale (51): die „Bar Marsella“ im Barrio Chino von Barcelona

Die Zeit dehnte sich und breitete sich wie ein Brautschleierauf die reale Welt

Die „Bar Marsella“ verbarg sich an der Ecke Calle San Pablo und Calle San Ramón im Barrio Chino, das so ziemlich heruntergekommenste Innenstadtviertel Barcelonas, wo die Messer locker saßen, Autos garantiert innerhalb einer Nacht ausgeraubt wurden und Betrunkene nicht mit dem Mitleid einer barmherzigen Seele rechnen konnten. Man brauchte in dieser wunderbar verrufenen Gegend der Stadt keine fünf Minuten durch die schmalen Gassen zu schlendern, um über irgendeine alte, romantische Bar mit Jugendstilinterieur zu stolpern, die nur jemand links liegen ließ, der den schönen Seiten des Lebens nichts abgewinnen konnte. Aber die „Bar Marsella“ war die unbestreitbare Königin unter den Bars. Sie war meine Liebe auf den ersten Blick. An den kleinen runden Tischen hatten vielleicht sogar schon Durruti, Ascaso und Oliver Verschwörungspläne geschmiedet, vorausgesetzt, sie waren abends damit fertig, denn die Bar ließ um 18 Uhr die schiefen Rolläden herunter. Pablo Picasso könnte hier seinen Aperitif zu sich genommen haben, und für Paul Verlaine und Arthur Rambaud wäre die „Bar Marsella“ ein Ort gewesen, der sich ihrer besoffenen Dichtkunst würdig erwiesen hätte.

Vor großen Fenstern und hinter einem langen Tresen aus Marmor herrschte Justino, ein schlanker Mann um die 50 mit schütterem Haar, der nicht nur so aussah wie ein perfekter Barkeeper, sondern es auch war. Seinem aufmerksamen Blick entging kein nur zaghaft geäußerter Wunsch. Nie jedoch wirkte er zudringlich, und nie traktierte er einen mit missmutigen Blicken, wenn man bereits eine Stunde vor einem Getränk saß. Er servierte mit vollendeter Grandezza den Café Conledge und den „Absenta pura“, den ich bevorzugt zur grünen Stunde zu mir nahm, die in Paris „Heur bleu“ hieß und am späten Nachmittag das quasi ideale Eröffnungsgetränk für den Abend war. Auguste Renoir, Edgar Degas und Henry Toulouse-Lautrec hätten hier jede Menge Motive mit passendem Interieur für ihre Absinth-Drinker-Porträts gefunden. Der Absinth wurde hier selber gebraut. In den zivilisierten Gegenden Europas war das grüne Gift bereits seit geraumer Zeit verboten. Paul Verlaine bezeichnete es als „bösartigen Freund“, „der unter dem grünen Mantel der Hoffnung versucht, einem die Augen auszukratzen und den Leib zu durchbohren“.

Das verlangte nach einer Probe aufs Exempel. Unter den großen Spiegeln der Bar ließ ich fachmännisch langsam Wasser über das auf einer Gabel liegende Zuckerstück ins Glas laufen, dessen Inhalt sich milchig trübte, ungefähr so, wie sich anschließend auch mein Geisteszustand beschreiben ließ, der sich nach zwei, drei Gläsern ebenso zuverlässig einstellte wie Gleichgewichtsstörungen. Allein die Prozedur, das Zuckerstück meditativ beim Einsacken zu beobachten, als ob es sich um ein großes weltbewegendes Ereignis handeln würde, verschaffte mir ein angenehm wohliges Gefühl. Die Zeit dehnte sich und breitete sich wie ein Brautschleier auf die reale Welt, die rapide an Bedeutung verlor. Anschließend torkelte ich dann mit der großen Flamme meines Lebens auf die andere Seite der berühmten Ramblas, um im Casco Andigua in einem Restaurant meinem Magen wieder eine gewisse Stabilität zu verleihen, bevor wir uns in versteckten kaschemmenartigen Bodegas kleine Rotweinportionen reichen ließen, um uns den leckeren Rest zu geben.

Als Alternative stand in der Nähe des „Correos Y Delegrafos“-Gebäudes eine Champagneria zur Auswahl, mit der sich der Abend um einiges beschwingter beginnen ließ. Dort aber war es laut und voll, dort röhrte und rumorte die Arroganz der gutbürgerlichen Katalanen, deren Unterdrückung Francos beste Tat gewesen war. Unbeschadet von diesem dünkelhaften Getue konnte man in der „Bar Marsella“ sein schwer gewordenes Haupt zur Ruhe betten, wenn einen das Rauschen und Fauchen des ständig laufenden Fernsehgeräts nicht störte – oder das Schnattern der einheimischen Nutte oder das trunkene Lallen eines von seiner Frau hinausgeworfenen Ehemanns oder das wässrige Stieren eines verirrten Seemanns. In diesem Haufen von Verlorenen und Gestrandeten wurde mehr getrunken als eine Gewerkschaft in einem wilden Streik an Lügen erzählt, um diese wunderbare Metapher Guy De Bords endlich einmal loszuwerden, die er nur in der „Bar Marsella“ erfunden haben kann.

Ich fühlte mich damals wohl hier, obwohl die Szenerie etwas Gespentisches und Trostloses an sich hatte. Dennoch war es keine Radau-Kneipe, und niemand wurde hier schlecht behandelt. Vielleicht war es auch nur „die grüne Hoffnung“, die meine Erinnerung färbt. Von dem melancholischen Stoff selbst gepantschten Absenthas schleppten wir eine Flasche nach Hause, um die angenehme Stimmung der Abwesenheit aus der „Bar Marsella“ ins ferne Berliner Klima hinüberzuretten. Aber zu Hause hatte der Stoff seinen Reiz verloren. Er verursachte nur Übelkeit. KLAUS BITTERMANN