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Nicht Globalisierungsgegner, sondern Gewerkschaftler bestimmen die Demonstrationen von Nizza. Sie kämpfen nicht gegen, sondern für eine andere EU

aus Nizza DOROTHEA HAHN

Ein Rest von Tränengas dringt auch durch die Lüftungsanlagen ins Innere der „Acropolis“. Nur wenige Meter vom festungsähnlich gesicherten Kongresszentrum im Zentrum Nizzas entfernt liefern sich kleine Stoßtrupps von Demonstranten – vor allem baskische und korsische Nationalisten – Straßenschlachten mit martialisch gerüsteten Polizeieinheiten. Im Laufe des Tages verlagern sich ihre Scharmützel in den weiter entfernten Nizzaer Stadtteil mit dem beziehungsreichen Namen „Libération“.

Außer leichten Schleimhautirritationen merken die Staats- und Regierungschefs der EU und ihrer Beitrittskandidaten nichts davon. Zu einer „Blockade“ oder gar zur „Verhinderung“ des gestern begonnenen Gipfels, wie es einige linke Gruppen und Globalisierungsgegner angekündigt hatten, kommt es nicht. Dazu sind die Kräfteverhältnisse zu ungleich.

Das hatte sich schon am Mittwoch gezeigt, als die bislang größte europäische Demonstration über vier Stunden durch die Straßen Nizzas zog. In ihr waren die Globalisierungsgegner, die Trotzkisten und Anarchisten, sowie die Arbeitsloseninitiativen und anderen NROs viel schwächer vertreten, als sie es selbst erwartet hatten. Beherrscht wurde das Nizzaer Pflaster stattdessen von den europäischen Gewerkschaften – von kleineren sozialdemokratischen Delegationen, vor allem aus den nördlichen Ländern der Union, und von großen kommunistischen Gruppen aus Frankreich, Spanien und Italien.

Statt Fundamentalopposition gegen die Europäische Union und gegen die gestern unterzeichnete Grundrechtecharta herrscht in Nizza Reformismus vor. „Europa“, so eine italienische Rentnerin, die wegen der Verlängerung der Lebensarbeitszeit in den EU-Ländern protestiert, „ist eine gute Idee. Um gegen BSE, Hormone im Tierfutter und Ölpest auf dem Meer zu kämpfen, brauchen wir es unbedingt.“ Ihre Freundin aus dem italienischen Genua knufft sie in die Seite. „Sag aber auch, dass wir die EU unbedingt wie die Pest überwachen müssen. Sonst werden die Deregularisierer in Brüssel unsere sozialen Rechte immer weiter beschneiden.“

Für die französische CGT, deren Mitgliedschaft im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) bis letztes Jahr von den Sozialdemokraten verhindert wurde, ist Nizza die Feuertaufe. Vor zehn Jahren hatten die Gewerkschaftler gegen die Maastrichter Verträge gestimmt, nun versuchen sie, innerhalb dieser Maastricht-EU für ihre Ziele zu kämpfen. Dennoch mahnt CGT-Chef Bernard Thibault vor allzu viel Optimismus: „Die 800.000 Gallier von der CGT allein können die sozialen Rechte in Europa nicht erkämpfen.“

„Französisches Arbeitsrecht für ganz Europa“ steht auf einem Transparent aus dem Süden. „Verbot der gesundheitsschädlichen Nachtarbeit für alle – Männer und Frauen“ auf einem anderen. „Bislang hat die EU dafür gesorgt, dass die hohe Sozialversorgung nach unten nivelliert wurde“, beklagt ein Metaller aus Nantes, der vor Nizza immer nur gegen die EU demonstriert hat, „in Großbritannien ist das exzellente Gesundheitssystem zerschlagen worden, anderswo die staatliche Rentenversorgung. Diese Tendenz wollen wir umkehren.“ „Natürlich bin ich für die Osterweiterung der EU“, erklärt eine Lehrerin aus Montpellier, „ist doch logisch. Aber wir müssen die Osteuropäer auf dem höchsten sozialen Niveau des Westens reinholen.“

Ähnliche Töne gegenüber der EU schlagen in Nizza auch Demonstranten aus Spanien, Portugal und England an. Als eine Truppe von Polen unter der rotweißen „Solidarność“-Fahne vorbeiläuft, stimmen Portugiesen die „Internationale“ an. Die Polen singen nicht mit. Aber sie skandieren den Slogan, der in Nizza allgegenwärtig ist. Er stammt aus der französischen Streikbewegung zur Verteidigung der Sozialversorgung und gegen den Abbau des öffentlichen Dienstes von 1995: „Tous ensemble“ – „Alle zusammen“.

Neben den Blocks des Südens nehmen sich die nördlichen Gewerkschaftler erbärmlich aus. Aus Deutschland, wo der DGB mit 9 Millionen Karteikarteninhabern das größte Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes ist, haben sich nur rund 100 offizielle Gewerkschaftsvertreter nach Nizza bequemt. In der bunten Menschenmenge gehen diese meist älteren Herren unter.

Selbst aus Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern sind mehr Demonstranten gekommen. „Unsere Fabriken produzieren zu 60 Prozent für die EU“, erklärt der Metaller Edmund aus Maribor, „da ist es logisch, dass wir in die EU hineinwollen. Nicht um Sozialdumping gegen die Altmitglieder zu betreiben, sondern um selbst höhere Löhne zu bekommen.“

Als die über 60.000 Demonstranten am Mittwoch durch Nizza ziehen, ist das EU-Pressezentrum bereits geöffnet. Für die 3.000 in Nizza akkreditierten Journalisten, die dort für die Gipfel-Tage ihre Arbeitsplätze haben, laufen nonstop Filmaufnahmen über Riesenleinwände. Sie zeigen Bilder vom Flughafen Nizza. Einziges Thema: die Ankunft von Diplomaten und Politikern. Die 50 Meter vom Pressenzentrum entfernt durch einen dichten Polizeikordon vorbeidefilierende Menschenmenge und ihre Forderungen zeigen die Bildschirme nicht.