Philosophical Jazz & Liner Notes

In der Columbiahalle ist es kalt. Die Leute schlagen ihre Kragen hoch, und Brad Mehldau vertieft sich in sein Spiel

Wer liest heute Goethe? Wer liest Kant, Schopenhauer, Heidegger und Walter Benjamin und ist kein Philosophiestudent? Wer füllt seine CD-Booklets mit langen, zitatengespickten philosophischen Abhandlungen über Fragen des Seins und der Vergänglichkeit? Der 29-jährige Pianist Brad Mehldau nutzt seit seinem ersten Album, „Introducing Brad Mehldau“ (Warner) von 1995, den verfügbaren Platz in seinen Liner Notes für gedankliche Ausführungen. Seine Texte sind unerwartete Kostbarkeiten an einem Ort, der sonst nur für knappe musikalische Informationen Verwendung findet. Die Fragen, die er aufwirft, handeln vom Umgang mit Zeit, mit Ironie und Authentizität.

Auf seiner neuen, inzwischen siebten CD, „Places“, beschäftigt er sich mit der Bedeutung des Orts. Dabei bekommt der Ort etwas Wesenhaftes in Mehldaus Reflexion über Vergänglichkeit, Erinnerung und schließlich Zeit, die den Erinnernden sterblich macht, schutzlos und verletzbar. Nicht umsonst erwähnt Mehldau in diesem Zusammenhang Kurt Cobain und zitiert immer wieder Abschnitte aus Goethes „Leiden des jungen Werther“, dem er auch schon eine Komposition widmete. Er sieht sich selbst in diesem Werther. Dieser inneren Zerrissenheit schwermütiger Gefühlswelten und unaussprechlicher Empfindungen begegnete er lange Zeit mit der Nadel. Wo Todesfurcht und Todessehnsucht so eng beieinander liegen, kann Ironie befreiend wirken, wenn sie mit der Doppeldeutigkeit von Worten spielt. Beim Aufklappen der CD sieht man die Musiker des Mehldau-Trios einhellig an einem Ort der inneren Befreiung anderer Art. Die Kompositionen handeln dagegen von Orten, an denen Mehldau Konzerte gespielt hat. Momentaufnahmen aus der Erinnerung.

Auch die Columbiahalle ist ein Ort. Ein Ort in Berlin, und die dazugehörige Komposition würde einfach „Berlin“ heißen. Denn Brad Mehldaus Berlin zieht sich in diesem Moment an ebendiesem Ort zusammen. Doch es gibt keine Komposition „Berlin“, nur diesen Ort in diesem Zeitabschnitt.

An diesem Ort, in der Columbiahalle, ist es kalt und zugig. Die Menschen schlagen ihre Kragen hoch und bekommen kalte Nasenspitzen. Brad Mehldau vertieft sich tranceartig in sein Spiel. Der Kopf versinkt zwischen den hoch gezogenen Schultern und liegt fast auf den Tasten, während die Finger sich mit der leichten Geschmeidigkeit fließenden Wassers darüber bewegen. Er spielt eigenene Kompositionen und dann wieder zersplitternde Impovisationen über träumerische traurige Jazzballaden. Nicht dabei sind seine Kompositionen, die man aus Filmen kennt, wie das für das beste Instrumental-Solo Grammy-nominierte Stück „Blame It On My Youth“ aus dem Kubrick-Film „Eyes Wide Shut“ oder „Dream“ aus Clint Eastwoods „Midnight in the Garden of Good and Evil“. Als Zugabe spielt er „River Man“ des englischen Singers/Songwriters Nick Drake, der 1974 26-jährig an einer Überdosis Antidepressiva starb. Schließlich verbeugt sich Brad Mehldau vor seinem Publikum, und es ist diese glückliche Bescheidenheit, die seine Authentizität in diesem letzten Moment fühlbar macht. MAXI SICKERT