Kampf um Gottes Stimme

Dass in diesem US-Wahljahr die Anrufung von Gott und Religion ausgerechnet von demokratischer Seite kommen sollte und von einem Juden beschworen wurde, sorgte für einige Verwirrung und für ein erneutes Aufflammen der öffentlichen Diskussion um Gottes Platz in Amerikas Politik

von PETER TAUTFEST

„Unser Volk muss seinen Glauben erneuern; unsere Nation sowie jeder Einzelne muss sich aufs Neue Gott und seinen Absichten zuwenden.“ Kaum nominiert, erregte Joseph Lieberman mit diesen Ausführungen vor einer schwarzen Zuhörerschaft Aufsehen – und Anstoß. Bisher gehörten Amerikas Juden zu den entschiedensten Verfechtern der Trennung von Politik und Religion. Prompt meldete sich denn auch mit der Anti Defamation League (ADL) eine der ältesten Bürgerrechtsgruppen Amerikas, und pochte darauf, dass die amerikanische Verfassung die Trennung von Staat und Kirche vorschreibe.

Als Gouverneur Bush in einer Diskussion im Rahmen des Vorwahlkampfs mit „Jesus“ auf die Frage antwortete, welcher Philosoph ihn am meisten beeinflusst habe, erhielt er spontanen Applaus. Seine Antwort schien ganz in der Tradition republikanischer Anbiederung an die christliche Stimme zu stehen. Als allerdings Jo Lieberman bei seinem ersten Auftritt als frisch nominierter Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite Al Gores sich mehrfach auf die Bibel und Gott berief, rechnete die liberale Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times vor, dass er innerhalb von nur neunzig Sekunden dreizehnmal Gott angerufen habe.

Dass Gott sich dieses Jahr nicht aus dem amerikanischen Wahlkampf heraushalten lässt, hat natürlich seinen Grund nicht in der Nominierung des strenggläubigen Juden Joseph Lieberman. Eher ist dessen Nominierung als Ausdruck der anhaltenden Präsenz Gottes in der amerikanischen Politik zu werten. „Liebermans Religiosität ist in erster Linie nicht jüdisch, sondern amerikanisch“, sagt dazu Eldon Eisenach, Autor mehrerer Bücher über die Bedeutung der Religiosität für das „Amerikanische Experiment“. Amerika hat ein ambivalentes und widersprüchliches Verhältnis zu Gott. Gemessen an der Zahl der Gläubigen und Kirchgänger sind Amerikaner das religiöseste Volk auf Erden – „Amerika ist christlicher als Indien hinduistisch oder Israel jüdisch ist“, sagt Harvard-Professor Richard Parker – und zugleich sind Amerikaner gemessen an der Zahl ihrer Untaten das sündigste Volk auf Erden. Die strikte Trennung von Staat und Kirche in den USA gilt als Voraussetzung für religiöse Toleranz und als Grund für die Existenz mehrere tausend Kirchen und Konfessionen, die miteinander wetteifern (die genaue Zahl von Glaubensgemeinschaften in den USA weiß kein Mensch).

Auf der anderen Seite berufen sich Politiker und Verfassungsrechtler gern darauf, dass nur die Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes eine Verfassung wie die amerikanische möglich machte, in deren Zentrum das freie Individuum steht: „Ohne die Vorstellung eines allmächtigen Gottes hätte unsere Verfassung nicht geschrieben werden können,“ sagte Joseph Lieberman auf der gleichen Veranstaltung.

Selbst Amerikas berühmter erster Verfassungszusatz ist ambivalent, wenn nicht widersprüchlich. „Der Kongress wird kein Gesetz verabschieden, das die Etablierung einer Religion respektiert oder deren freie Ausübung behindert.“ Was dem einen der erste Halbsatz, das ist dem anderen der zweite. Unter Berufung auf dieses Paradox dürfen in Amerika Schulkinder nicht vor dem Unterricht beten, das Militär aber besoldet Pfarrer, Rabbis und Imame, und der Kongress stellt einen Geistlichen ein, der vor jeder Sitzung mit den Abgeordneten betet. Staatliche Schulen dürfen keine Krippenspiele aufführen, auf jeder Dollarnote aber steht „In God We Trust“.

„Ich will, dass man es über Montgomery hinaus und in der ganzen Nation hört, dass wir ein christliches Volk sind. Wir werden kämpfen und nicht rasten bis Gerechtigkeit wie Wasser rinnt und das Recht wie ein mächtiger Strom fließt. Wenn wir nicht Recht haben, dann hat Gott der Allmächtige Unrecht.“ Diese Worte stammen aus einer der folgenschwersten Reden, die in Amerika je gehalten wurden. Ein noch weitgehend unbekannter Pfarrer sprach am 5. Dezember 1955 in Montgomery, Alabama. Martin Luther King löste mit dieser Predigt die Civil-Rights-Bewegung aus, die 1964 zur Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes führen sollte.

Protagonisten, die heute das Engagement der Christen in der Politik fordern, wie Jerry Falwell, plädierten damals dafür, dass die Kirche sich aus politischen Dingen heraushält. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die starke Rolle der (schwarzen) Kirche im Kampf um die Bürgerrechte den Weg frei gemacht hat für die Rolle, die die evangelikalen Kirchen ab Mitte der Achtzigerjahre in der Politik spielen sollten.

Gott war in Amerika nie vom öffentlichen Marktplatz verbannt, sagt denn auch Isaac Kramnic, Politologe an der Harvard-Universität und Autor des Buchs „Die gottlose Verfassung“. Gerungen wurde weniger um die Rolle von Religion in der Politik als um deren Agenda: „Viele, die ein Ohr für die prophetische Rolle der Kirche haben, wenn es um die Abschaffung der Sklaverei, die Durchsetzung der Bürgerrechte sowie um das Einklagen sozialer Gerechtigkeit geht, sind skeptisch gegenüber der prophetischen Stimme der Religion, wenn es um Abtreibung, Sexualität und Familie geht – und umgekehrt“, sagte E. J. Dionne, Leitartikler für die Washington Post und Forscher am Brookings Institut, als er am Rande des demokratischen Parteitags in Los Angeles im August, den von ihm herausgegebenen Reader über Religion in Amerika vorstellte. In Anspielung auf Tina Turners berühmten Song („What’s Love got to do with it“) erscheint er unter dem Titel „Was hat Gott mit dem Amerikanischen Experiment zu tun?“. Er ist nur eine von gut einem Dutzend Veröffentlichungen, die dieses Jahr in Fach- und Publikumspresse zur Rolle der Religion im Wahlkampf erschienen sind. „Es kann gut sein, dass man sich einst an die Jahrhundertwende als an die Zeit erinnert, da Amerika das Verhältnis zwischen Religion und Politik, Glauben und Kultur neu verhandelte,“ sagt Dionne dazu.

Die Gründe für die Renaissance der Religion in Amerika sind vielfältig. Sie werden im Ende des Kalten Kriegs gesehen (das Böse steht nicht mehr gut sichtbar außerhalb Amerikas) sowie in den betrogenen Hoffnungen an den Sozialstaat, im Niedergang der protestantischen Kirchen, die zusehends evangelikalen Freikirchen gewichen sind, und in der Biographie des Jahrgangs, der jetzt in Amerika wirtschaftet: „Die Kinder sind aus dem Haus, der Zenit des beruflichen Lebens ist erreicht, in der Garage stehen drei Autos – aber da war doch noch was?“, so Winifred Gallagher in ihrem 1999 erschienen Buch „Working on God“.

Nicht zuletzt ist die neue Religiosität eine Spätfolge der Kulturrevolution der Sechzigerjahre und eine Reaktion auf Frauen-, Umwelt- und Schwulenbewegung. „Angesichts der Atomisierung der Gesellschaft wird rückblickend in der Religiosität ein Bindemittel gesehen, das der Nation Zusammenhalt gab“, sagt E. J. Dionne auf einer Veranstaltung Mitte September, auf der neuste Zahlen über Religion und Politik vorgestellt wurden (siehe Spalte).

Im Zentrum der Auseinandersetzung um die Rolle von Religion und Religionsgemeinschaften in der Politik steht in diesem Jahr ein zunächst unverfänglich klingender Begriff: „Charitable Choice“. Er stammt aus der 1996 verabschiedeten Reform der Sozialgesetzgebung und erlaubt die Vergabe staatlicher Mittel an Glaubensgemeinschaften für die Bereitstellung sozialer Dienste. Für Gouverneur Bush waren die so genannten Faith Based Organisations (Glaubensgemeinschaften) der Schlüssel zu einer neuen Sozialpolitik, die ohne den bürokratischen Apparat des Staates auskommt und auf die Motivation seiner Mitglieder in der Sozialarbeit setzen kann. Charitable Choice ist aber zugleich unter heftige Attacken seitens der Verfechter der Trennung von Staat und Kirche geraten.

„Wenn Kirchen Steuermittel bekommen, was unterschiedet sie dann noch von Staatskirchen?“, fragt Cal Thomas, Autor eines provokativen Buchs über „Über die Christliche Rechte und den Staat“. „Was unterscheidet Glaubensgemeinschaften dann noch von Interessengruppen, die Geld vom Staat wollen?“ – „Für die einen ist die Indienstnahme der Glaubensgemeinschaften weiter nichts als der Versuch des Staats, sich seiner sozialen Verpflichtung zu entledigen“, sagt Jim Wallis, vielen Deutschen von seinen Auftritten auf dem Kirchentag bekannt. „Der Fortbestand der Armut angesichts des Reichtums im Lande aber ist ein Skandal, der an das Gewissen des Landes rührt, und das manifestiert sich auch im neuen Aktionismus der Glaubensgemeinschaften.“

Die neuen Bewegungen wollen zurück zum biblischen Auftrag, der auch die Fürsorge für die Armen einschließt. „Verfassungen beziehen ihre Macht nicht nur aus ihrem Text, das Gesetz muss im spirituellen Kodex des Volkes widerhallen“, sagt Eldon Eisenach. „Jeder Zurückdrängung der Religion folgte in Amerika noch deren Neuetablierung im öffentlichen Leben. Wir leben heute in einer solchen Phase der Neuetablierung. Die amerikanische Version des Sozialdemokratismus hat in den Fünfzigerjahren keinen neuen Gedanken produziert, während wichtige Probleme des Landes, zu denen auch die Herstellung sozialer Gerechtigkeit gehören, ungelöst blieben.“

Bush und Gore zielen auf die Unzufriedenheit darüber. Bush mit seiner Frage nach dem Sinn von Prosperität, Lieberman mit dem Versuch, konservative Ethik mit einer progressiven sozialen Agenda zu verbinden. In weltlichen Kämpfen sich mit Gott verbünden zu wollen, ist keine amerikanische Erfindung, auch nicht dass sich beide Seiten auf Gott berufen. Amerikas religiöser Pluralismus dürfte dabei einem Bürgerkrieg vorbeugen. Die Anrufung Gottes kann zum Stimmenfang opportun sein. Ob am Ende Politiker die religiöse Renaissance für sich instrumentalisieren können, oder ob sie auf die Agenda der Religionsgemeinschaften werden eingehen müssen, bleibt abzuwarten.

PETER TAUTFEST, 58, ist Korrespondent der taz in Washington