Hübsch ins Körbchen

Wahre Lokale (39): Scheiß-Mathematik im Hamburger „After-Work-Club“

Heute „nachm Meeting“ wollen wir mal ordentlich „abzappeln“, versprach mein Cousin. Er arbeitete jetzt seit einer Woche in einer Hamburger Multimedia-Agentur und befleißigte sich eines merkwürdigen Post-80er-Jahre-Coolsein-Wortschatzes. Sehr merkwürdig, aber ich hatte mich schon daran gewöhnt.

Anyway, mein Cousin holte mich also mit seinem Mini ab. Er hatte noch einen schmallippigen Event-Manager von der Agentur „Rotze und Partner“ dabei. Wir fuhren los. Und zwei süße Begleiterinnen, so gluckste mein Cousin beim gazellenartigen Aussteigen am Dammtorwall, hätte er auch schon akquiriert. Dann verlangsamten sich seine Bewegungen auffällig. Er spähte die lange Start-up-Menschenschlange entlang, die bereits kurz nach sechs um Einlass in den derzeit angesagtesten Laden in town bettelte – den „After Work Club“ im Café „Schöne Aussichten“. Ein nettes Lokal mit Blick über einen hübschen Park, aber jeden Donnerstag ab 18 Uhr, da geht hier die Luzie ab! Eben noch in der Agentur und jetzt schon im Paradies der besser verdienenden Werktätigen. Aber nur bis Schlag zwölf. Dann müssen alle wieder hübsch ins Körbchen, um ausgeruht und unverkatert am nächsten Morgen ab neun wieder „Das macht Sinn“ zu sagen oder „Verkaufen!“ ins Telefon zu „kommunizieren“. „Wir werden beobachtet“, sprach mein Cousin. „Da vorne sind sie, die besagten kleinen Hanseatentöchter.“ Wieder so ein Achtziger-Begriff. „Also stell dich jetzt bloß vernünftig an“, fuhr mein Cousin in seiner unnachahmlichen Art fort. Er zwinkerte irgendwohin. „Pass auf, du Versager: Wir gehen da jetzt nicht hin. Das ist nicht cool. Der Haken ist: Wir sind drei. Gegen zwei. Macht summa summarum, nach Konrad Zuse, fünf. Gleich ungerade Zahl. Das ist Mathematik, Alter. Und noch was: Pardon wird nicht gegeben! Also mach jetzt bloß keinen Scheiß!“ Ich bemühte mich, jetzt um Himmels willen alles, bloß keinen Scheiß, zu machen. „Take it easy! Es läuft.“

Mein Cousin versuchte die Situation etwas zu entspannen. Er machte in Richtung irgendwo die internationale Telefongeste: Lang ausgestreckter Daumen zweieinhalb Zentimeter vom rechten Ohr, kleiner Finger knapp unterhalb des Kinnes. Mein Cousin übermittelte also die Botschaft „Wir telefonieren“ – und wie ich heute vermute, war die internationale Telefongeste meines Cousins begleitet von einer heimlichen Botschaft: „Ja, den hab ich jetzt am Hals. Der ist aber auch ganz o. k., interessiert sich für Politik. Ihr könnt ja mit ihm über die sozialen Implikationen von Tralala diskutieren.“ Er meinte mich, klarer Fall. Er wollte mir sicher nicht schaden. Andererseits kannte er sich aus mit Mathematik. Logisch.

Auch ich hatte die Sache blitzschnell durchschaut und durchgerechnet. Wir entern den „Schuppen“. Mein Cousin befleißigt sich eines federnden Ganges, fast ins Feixende hineinspielend. Es ist jetzt halb sieben. Die Tanzfläche kocht bereits. Supergelaunte bissi Supertypen im Freiheitstaumel lassen die Aktentaschen Amok kreisen. Moderiert von NDR 2. Unter der Schirmherrschaft von vermutlich Uwe Bahn und Heidi Kabel. Es ist laut. Es ist heiß. Es lambadat und lateinamerikant penetrant aus dicken Boxen. Hier gibt’s keine „Milch für Kuba“, sondern heiße Rhythmen für Enddreißiger, die in den Achtzigerjahren alles von Kool and the Gang, Matt Bianco und Sade „rauf und runter“ gehört haben.

Man schnaufelt darüber, dass jetzt leider auch die hässliche Fratze der Old Economy in Form von lachsfarbenen Versicherungsvertretern und Chefsekretärinnen Einzug in den Club erhalte habe. Was hätte Marvin Gaye („Sexual Healing“) dazu gesagt, der bekanntlich von seinem gemäßigt religiösen Vater erschossen wurde, so denke ich noch, da sehe ich meinen groovy Cousin mit seinem Nullzwei-Heineken für fünf Mark an der Theke stehen. Das Lachen des Siegers fehlt. Wo sind die Ladys? Hab ich irgendwie doch Scheiß gebaut? Nach schweigsamen, unendlich langen drei Sekunden blickt er mich leer an: „Hast du deren Händi-Nummer? Und wo ist überhaupt der Event-Fritze geblieben?“, fragt er, und es klingt wie „Deutschland, bleiche Mutter.“ Da wird mir plötzlich scheißo-klaro: Hier hat unbemerkt eine unfreundliche Übernahme stattgefunden. Eins und zwei stehen jetzt gegen zweimal null. Für uns ist die Mathematik heute Abend jedenfalls vollrohr im Arsch. Endurteil „Schöne Aussichten“: Mehr was zum Kaffeetrinken. GERALD FRICKE

Hinweis:Supergelaunte bissi Supertypen im Freiheitstaumel lassen die Aktentaschen Amok kreisen