Mit Huhn, Ziege und Zigaretten

Unwägbarkeiten der Straße. Oder: Wie man trotz Hindernissen Medikamente für achttausend Menschen quer durchs Land nach Freetown bringt

von STEFAN HAGELÜKEN

Bevor das Auto losfahren kann, wirft uns der fünfjährige Joseph ein forderndes „Snap“ entgegen. Das heißt: Aussteigen und ein Foto machen! Als das passiert, stürzen auch die anderen Kinder von Moyamba herbei. Das verzögert den Aufbruch. Moyamba ist ein ruhiger und grüner Ort in Sierra Leone, eigentlich nicht weit von der Hauptstadt Freetown entfernt. Aber in der gegenwärtigen Kriegslage muss man sich beeilen. Um drei Uhr nachmittags geht es schließlich los, voll beladen mit vier Passagieren, Medikamenten für 8.000 Menschen, einer Ziege und einem Huhn.

Bei der Wegkreuzung von Rotifunk, 30 Kilometer weiter und anderthalb Stunden später, werden Zigaretten eingekauft. Das muss sein, damit an Straßensperren die ein oder andere Zigarette den Besitzer wechselt, was die Miene des Empfängers aufhellt, den Schlagbaum öffnet und dem vorherigen Besitzer einen weiteren Freund beschert.

Ein Stau mit dreißig Autos

Gegenverkehr. Also kommen Autos über die Mabang-Brücke. Das ist nicht selbstverständlich. Mabang ist Sierra Leones Nadelöhr – eine Holzbrücke auf der derzeit einzig sicheren Straße zwischen der Hauptstadt Freetown und dem Osten des Landes. Normalerweise würde man den weiter nördlich liegenden „Highway“ über die Orte Masiaka und Mile 91 benutzen, aber der ist Kriegsschauplatz seit Sierra Leones Bürgerkrieg neu ausgebrochen ist. Also bevorzugen jetzt selbst Lkws den schwierigeren Weg über die alte Eisenbahnbrücke von Mabang, deren Holzbohlen und Bretter unter der schweren Last immer wieder brechen. Wenn dann ein Fahrzeug festhängt, geht erst mal nichts mehr auf der einspurigen Brücke.

Um 17 Uhr liegt Mabang vor uns – und eine Reihe von Autos. Zwölf vor, zwanzig hinter uns. 30 Autos vor dieser Brücke sind gleichbedeutend mit einem 50-Kilometer-Stau in Deutschland.

Am Anfang der Brücke steht eine Gruppe von UNO-Soldaten aus Guinea. Sie wollen sofort fotografiert werden, um eine Erinnerung an diesen berühmt-berüchtigten Ort zu haben, wenn sie nach ihrer Mission wieder zu Hause sind. Ein paar Meter weiter ist ein Lkw auf den halben Palmenstämmen, alten Eisenbahnbohlen und sonstigen Stöcken und Brettern der Brücke eingebrochen. „God Go With You“ steht auf den Schmutzabweisern der Hinterräder – tja. Wie immer in solchen Fällen verdienen sich einige Einwohner von Mabang ein Zubrot dadurch, dass sie mit Wagenhebern hantieren und nach stundenlanger Arbeit Bretter unter die Räder des eingebrochenen Lkws legen, so dass dieser hoffentlich bis zum Ende der Brücke weiterfahren kann. Gewöhnlich werden dann erst einmal die wartenden Pkws durchgelassen, weil diese die Brücke meist ohne Zwischenfall passieren, bevor der nächste Lkw irgendwo einbricht. Vor den Pkws sind natürlich noch die Fahrzeuge der UNO an der Reihe. Selbstverständlich ist das erste wartende Fahrzeug vor der Brücke ein UN-Lastwagen. Es kann also dauern.

Der festhängende Lkw und die eingebrochenen Bretter werden ausgiebig begutachtet und rege diskutiert. Die Brücke verspricht, ein gastlicher Ort zu werden. In weiser Voraussicht hat sich einer der Blauhelmsoldaten aus Guinea mittlerweile ein Feldbett vor den UN-Lastwagen gestellt. Vor der Brücke gibt es viele Stände mit Zigaretten, Getränken, Batterien, Broten – praktischerweise.

An den wartenden Autos gehen Kinder und Frauen vorbei: „Beafletti 500’“, murmeln sie, lüften den Deckel des Topfes und lassen einige Fleischspieße zum Vorschau kommen. „500’“ meint den Preis von 500 Leoni, etwa 50 Pfennig. Einige Stunden später macht ein Junge sich einen Spaß daraus, „Beafletti 500`“ zu rufen, den Deckel zu heben und den leeren Topf zu zeigen – sein Tagesgeschäft hat er gemacht, dem eingebrochenen Lastwagen sei Dank.

Der Kommandeur des Brückenortes muss immer wieder mit Autofahrern und Passagieren diskutieren, die ihn davon überzeugen wollen, dass sie aber wirklich die allerersten sein müssen, die über die Brücke fahren, wenn, ja wenn das bestehende Problem dort gelöst ist. Mittlerweile ist es 19 Uhr. Von der anderen Seite der Brücke könnten wir in einer Stunde in Freetown sein. Ab 23 Uhr ist in der Hauptstadt Ausgangssperre.

Dann. Der Lkw fährt! Das tut er etwa 10 Meter, dann bricht er wieder ein. Vielleicht sorgt ja der hochrangige Vertreter der sierra-leonischen Straßenbehörde, der diesmal ebenfalls vor der Brücke wartet, bald für Besserung. Die Bewohner von Mabang schimpfen jedenfalls bei jedem Stau und drohen, die Autos nicht mehr durchzulassen, da „keiner der Regierung sagt, wie schlecht der Zustand der Brücke ist“, wie einer von ihnen behauptet.

Nach wenigen Stunden vor der Brücke kennt man sich. Ein Kleinbus gehört der Methodistenkirche, die in der Südprovinz Sierra Leones ein Bildungsprogamm hat, ein weiterer Bus gehört einer anderen kirchlichen Organisation, dann kommen die Blauhelme aus Guinea.

In einem Mercedes sitzt ein gut gekleideter Mann mit leichtem Bauchansatz, eine ebenso gut gekleidete Frau und ein etwa vierjähriges Kind. Kind und Mann spielen Kungfu. Schließlich möchte auch einer der Blauhelmsoldaten mitspielen. Das darf er aber erst nach einiger Zeit und nachdem das Kind sich zuvor des Schutzes der Mutter vergewissert hatte – zu viele Kinder in Sierra Leone haben schlechte Erfahrungen mit Männern in Uniform gemacht.

Es gibt Gerüchte, dass die Batterie des Lkws leer ist. Später stellt sich heraus, dass er keinen Diesel mehr hat. Das Ergebnis ist das gleiche. Einige Wartende versuchen den Besitzer des Lkws davon zu überzeugen – nicht nur mit freundlichen Worten – dass er abladen müsse, um sein Gefährt leichter zu machen. Der Besitzer weigert sich hartnäckig.

Mittlerweile ist es stockdunkel. Ein anderer Lkw ist von der anderen Seite auf die Brücke gefahren, um den Lkwohne Treibstoff abzuschleppen und somit den Weg endlich frei zu machen. Es passiert, was passieren muss: Der helfende Lkw bricht ebenfalls ein.

Eine Stunde später ist der Besitzer des zuerst eingebrochenen Lkws „sanft`“ überzeugt worden, dass er abladen muss. Alle Männer helfen. Bananen, Cassawa-Blätter, Reis, Holz, Holzkohle. Die meisten Säcke werden auf die andere Brückenseite transportiert, aber einige Säcke werden auch von den „Helfenden“ zur Seite gelegt. Nun ist klar, warum der Besitzer nicht entladen wollte. Diese Brückenüberquerung wird für ihn richtig teuer.

Um halb elf Uhr nachts ist der leer geräumte Lkw mit vereinten Kräften endlich auf die andere Seite geschoben worden. Nun gibt es das übliche Chaos, da alle Wartenden versuchen, als Erstes mit ihrem Fahrzeug auf die Brücke zu kommen. Dieses Chaos wird nicht ohne lautstarke und ausgiebige Diskussionen gelöst, aber schließlich können auch wir passieren. Es ist 22.50 Uhr.

Die Zeit drängt. Die Ziege hinten im Auto hat bereits mehrmals plätschernde Geräusche gemacht. Und in zehn Minuten beginnt im nahen Freetown die Ausgangssperre, dann ist es nichts mehr mit Medikamente-Verteilen.

Ausgangssperre in zehn Minuten

Gegen 23.15 Uhr ist die Kreuzung zur Hauptstraße nach Freetown erreicht. Da kommt aus dem Dunkel ein „Stooooop!“. Also Stopp. „Mach das Licht aus!“ Wird gemacht. Ein Bewaffneter schleicht heran, leuchtet mit einer Taschenlampe in den Wagen. Auf der anderen Seite taucht noch ein Bewaffneter auf. Auf dem Gewehr des einen steckt ein Granatenaufsatz. Beeindruckend.

Die Zigaretten überzeugen von unserer Harmlosigkeit. Man bedeutet uns, bis zu einer Taschenlampe vorzufahren, die etwa 30 Meter weiter vorne leuchtet. Dort angekommen, wird ein Platz zum Parken angewiesen. Einige andere Autos, die schon vor der Brücke gestanden hatten, stehen bereits dort. Weitere kommen.

Diese Straßenkreuzung ist ein Stützpunkt von Milizen, die mit der Regierung verbündet sind. Nördlich und südlich dieses Checkpoints sind Blauhelmsoldaten aus Jordanien stationiert. Die Jordanier dulden keinerlei Verkehr nach 22.30 Uhr. Schließlich ist diese Gegend die Hochburg der „West Side Boys“, einer anderen Miliz, die einmal mit der Regierung verbündet war und nun Ärger macht, zum Beispiel durch die Gefangennahme britischer Soldaten.

Also muss die Nacht im Auto verbracht werden, mit Huhn und stinkender Ziege. Der Sternenhimmel ist dafür überwältigend. Früh am nächsten Morgen kommen wir endlich in Freetown an. Die Ziege landet einige Tage später auf unseren Tellern. Das Huhn bekommt der Fahrer.

Der Autor ist Projektleiter der Hilfsorganisation „Terra Tech“ in Sierra Leone.