Wenn die Gringos flüchten

Der Mexican Way of Life: In Mexiko reist man niemals allein, sondern immer wohl behütet und versorgt mit dem ganzen Clan

Lifestyleprodukt Urlaub. In unserer Sommerserie stellen taz-Korrepondenten grenzübergreifend Urlaubsstile vor. Denn zwischen Wanne-Eickel und Buenos Aires ändern sich nicht nur die Destinationen, sondern auch die Gewohnheiten. Letzter Teil: Die Mexikaner

von ANNE HUFFSCHMID

Wenn es Ostern wird, fliehen die Gringos. Zumindest aus La Peñita de Jaltemba, einem nicht sonderlich verträumten Fischerdorf an der nördlichen Pazifikküste Mexikos. Denn dann rücken die Mexikaner ein, und zwar en bola, in der Kugel, wie man hierzulande mehrköpfige Freizeitunternehmungen nennt. Ein wahrhaft Furcht erregende Invasion: Mit unzähligen Kindern und Kühlboxen, allerlei Großmüttern und großen Gettoblustern bewaffnet, fallen sie in das Örtchen ein, das kaum ein Reiseführer als touristisches Muss empfehlen dürfte. Obwohl hier durchaus eine Ahnung vom Mexican Way of Life zu finden wäre.

Binnen kürzester Zeit entstehen neben den verwaisten Gringo-Villen ganze Zeltstädte aus Plastikplanen und Holzgestängen. Nachts leuchten familiäre Lagerfeuer aus dem Dunkel, tagsüber geht man voller Hingabe vor allem einer Lieblingsbetätigung nach: der Organisation ununterbrochener Essgelage. Während die männlichen Familienoberhäupter, zumeist einen Aluminiumeimer voller Corona-Pullen in Reichweite, sich nicht vom Gartenstühlchen zu bewegen pflegen, hantieren Töchter, Schwestern, Gattinnen und Mamas so geschickt mit Tupperware und Tortillakörbchen, dass die Familienversorgung von früh bis spät gewährleistet ist. Manche Oma ruht unterdessen, alle viere von sich gestreckt, in einer eigens für sie ausgebuddelten Wassermulde. Umplätschert von kühlem Nass, der gnadenlosen Hitze entkommen, kann sie sich hier für eine kleine Weile ihrem Clan entziehen – oder umgekehrt.

Zwar sind Mexikaner in ihrer kostbaren Urlaubswoche, von denen sie höchstens zwei im Jahr haben, oft ohnehin nur eine, in der Regel wild zur Entspannung entschlossen. Von Stille oder Abgeschiedenheit ist dabei aber nicht die Rede. Ungefähr alle siebeneinhalb Meter spielt am Strand eine andere Blaskapelle auf, paukenbeladene Männer stapfen durch den heißen Sand von einem Sonnenschirm zum anderen. Und wer, wie die metropolengeplagte Berichterstatterin, auf der Terrasse des „Traumhauses“ – einer dieser fluchtartig verlassenen Strandresidenzen, die schlaue Amis an unwissende Europäer vermieten – ausgerechnet zu Ostern auf beschauliche Sonnenuntergänge hofft, hat sich gründlich verkalkuliert. Zu früher und zu jeder anderen Stunde scheppert aus der Musicbox der benachbarten Blechbude, einer Art Strandcantina für Hartgesottene, ohrenbetäubendes Geplärre. Zusammen mit den Mariachigeigen der nahe gelegenen Dorfarena, in der lautstarke Rodeofestivitäten abgehalten werden, ergibt das eine eindrucksvolle Klangcollage.

Was nicht heißen soll, dass urlaubende Mexikaner keinen Sinn fürs Medidative hätten. Ganz im Gegenteil. Vor vielen Jahren, so will es die Legende, hat ein Sturm der einst prachtvollen Strandpromenade den Garaus gemacht. Geblieben sind Mauerreste und Ruinen, die malerisch aus dem graugelben Sand ragen und in denen Möwen und Pelikane sich häuslich eingerichtet haben. Noch schöner als die eleganten Vögel aber sind die Pärchen anzusehen, die tagein, tagaus zwischen verwitterten Booten und halb verfallenen Gemäuern ihre Picknickdeckchen ausbreiten. Die auf den schiefen Mäuerchen hocken und einfach nur schauen. Auf das große, weite Wasser, auf die paar Fischerboote, die in der Ferne schaukeln, auf die Beachboys, die wie dunkle glatte Salamander mit ihren selbst gebastelten Brettern durch die Wellenpracht gleiten.

Im Wasser sind die Mexikaner ausdauernd und alles andere als wasserscheu. Jeden Nachmittag stiefelt in La Peñita der versammelte Familienclan ins Meer. Allzu freizügige Badekleidung ist verpönt. In klatschnassen Shorts und T-Shirts stehen kleine Menschentrauben kichernd und palavernd im Wasser, wahlweise bis zu den Knöcheln oder den Knien, ganz Wagemutige sogar bis zur Hüfte. Por si acaso, für alle Fälle, allesamt mit schrillfarbenen Schwimmwesten versehen.

Den Rest des Jahres ist das riesige Reiseland mit seinen sterilen Hotelbunkern und Freizeitparks, dem herben Wüstencharme der Baja California oder den Maya-World-Attraktionen in Yucatán wieder fest in der Hand der weit gereisten Blondschöpfe und der wenigen Einheimischen, die es sich leisten können, ihnen nachzueifern. Die anderen schuften und sparen und freuen sich auf den nächsten Familienausflug. Und dann endlich, zu Weihnachten, schlagen sie die Gringos wieder in die Flucht.