„Entschädigungszahlungen sind richtig aber spät“

■ Die Bremische Evangelische Kirche beteiligt sich am Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter. Mit Aufarbeitung hat das bisher wenig zu tun, die beginnt erst

Vor 14 Jahren versuchte der Bremer Pastor Hans-Günther Sanders gemeinsam mit anderen Engagierten, eine Debatte über Zwangsarbeit auch in Bremer Kirchenkreisen anzuregen. Schon damals forderte seine Gruppe Entschädigungszahlungen an ehemalige ZwangsarbeiterInnen. Beides soll jetzt offenbar nachgeholt werden. Wie die Stimmung innerhalb der Bemischen Evangelischen Kirche (BEK) 1986 war, als Sanders und seine MitstreiterInnen die Entschädigung von Zwangsarbeitern erstmals forderten, darüber sprach die taz mit dem streitbaren Pastor.

taz: Sie haben schon vor langem die Entschädigung von Zwangsarbeitern gefordert. Jetzt beteiligt sich die Evangelische Kirche Deutschlands am Entschädigungsfonds mit zehn Millionen Mark. Wie beurteilen Sie die Entscheidung?

Hans-Günther Sanders: Richtig, aber spät. In früheren Zeiten hätte das ohne den öffentlichen Druck ein ganz anderes Fanal gesetzt. Jetzt ist es leider wie so oft so, dass die Kirche hinterher hinkt, statt dem Evangelium gemäß Dinge voranzutreiben. Insofern hat die Freude einen schalen Beigeschmack.

Wie wurde Ihre Forderung nach Entschädigung innerhalb der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) damals aufgenommen?

Da herrschte völliges Unverständnis. Wir hatten ja selbst erst Anfang der 80er Jahre wiederentdeckt, dass es Zwangsarbeiter gab. Ich weiß noch, wie wir im Arbeitslager am Dammacker in Huckelriede standen und begriffen, was damals gewesen war. Die Entschädigungsfrage fing dann allerdings sofort an zu brennen, als wir die ehemaligen Zwangsarbeiter – soweit das noch ging – trafen. Aber erst mal wollten wir öffentliches Interesse wecken und Druck organisieren.

Der Geschichte der Zwangsarbeiter auf die Spur zu kommen – wie war das?

Das ist für mich eine sehr persönliche Frage. Mein Vater hatte eine Weberei bei Osnabrück. Wenn ich als Junge mit den Eltern auf den Friedhof ging, hieß es oft: „Hier liegen polnische und russische Leute.“ Ich konnte das lange nicht zuordnen – bis wir 1988 nach Russland fuhren, zur Feier „1000 Jahre Christentum in Russland“. Im Vorgespräch fragte ich damals den Erzbischof der Orthodoxen Kirche aus Düsseldorf, was wir mitbringen könnten. Der sagte: „Bringen sie Namen mit.“ Ich habe das erst nicht verstanden – bis er sagte: „Gehen sie über ihre Friedhöfe. Da werden sie Namen finden von Leuten, die bei uns gesucht werden.“ Das war 1988.

Wie waren die Reaktionen innerhalb der BEK, als Sie mit den Nachforschungen begannen?

Unsere Arbeitsgruppe in der Gemeinde hatte argumentiert, dass ja in den Fabriken viel Geld verdient wurde – umso mehr, je mehr Zwangsarbeiter man beschäftigte. Die wurden ja nicht entlohnt, also müsste am Ende mehr Kirchensteuer reingekommen sein. Als wir bei der Kirche die Kirchensteueraufkommenslisten erbaten, wurden wir aber mit fadenscheinigsten Argumenten – wie Datenschutz und so'n Quatsch – abgewiesen. Zum Glück half uns der Leiter des Staatsarchivs, der ja selbst sehr engagiert ist. Tatsächlich ging aus den Unterlagen hervor, dass die Kirchensteuer in den Stadtteilen gestiegen war, wo besitzende Menschen wohnten – und in den Arbeitervierteln unverändert geblieben war.

Und?

Oh, die Reaktionen waren böse. Wir hatten in ein Wespennest gestochen. Der damalige Präsident der BEK, zugleich Chef des Finanzgerichts, war sehr ungehalten.

Als Seelsorger haben Sie Menschenkenntnis. Wie haben Sie sich das erklärt?

In den Leitungsgremien der Kirche sitzen meistens Leute aus besitzenden Schichten. Das waren zu dem Zeitpunkt auch Menschen, die noch selbst Kontakt mit dem Nationalsozialismus hatten. Aber ich bin heute sehr vorsichtig beim verurteilen Einzelner. Wir haben die Elterngeneration nicht geschont, was auch richtig war, aber für die einzelnen Individuen war es unheimlich schwer. Seitdem weiß ich aber, wie es ist, von der Gnade Gottes zu leben, die mich in die Lage versetzt, meiner eigenen Unvollkomenheit auf die Spur zu kommen. Darum geht es. Das erwarte ich auch von der Kirche.

Von der BEK offensichtlich vergeblich.

Ja. Das finde ich deswegen so verrückt, weil es biblisch doch völlig anders ist: Beim Kreuz war keiner, nur die paar Frauen, die nicht mal Jünger waren. Wenn die zugeben konnten, dass sie kleine ängstliche Scheißer waren, dann können wir uns das auch leisten zu sagen, ja, das bin ich auch gewesen. Dann können die Älteren auch sagen: Wir haben diesen Dreck am Stecken.

Die Kirche hätte die Akten öffnen müssen – aus Schuldigkeit gegenüber den Zwangsarbeitern wie auch gegenüber der eigenen Glaubensvorstellung.

Sie haben damals nicht danach gesucht, wo Zwangsarbeiter in der Kirche beschäftigt waren. War das unvorstellbar?

Ja. Es ist für mich auch heute noch unvorstellbar.

In Berlin haben zwei katholische und 26 evangelische Gemeinden ein Lager betrieben.

Was heißt betreiben? Da muss es auch Wachpersonal gegeben haben. Für Bremen gab es da keinen Hinweis. Was mich mal interessiert hat, war, wie die Gemeinden mit dem Verbot umgingen, Zwangsarbeiter religiös zu betreuen.

Seelsorge?

Ach, Seelsorge möchte man fast als Luxus ansehen. Ich meine Taufe, Gottesdienst. Das war ja verboten. Ich habe nach Hinweisen in Kirchenvorstandsprotokollen gesucht – aber nichts gefunden. Auch in meiner Gemeinde, Zion, nicht. Aber gut, das war eher ein sporadisches Suchen.

Gab es einen Austausch – mit anderen Städten oder Kirchengemeinden?

Es gab einen bundesweiten Arbeitskreis, aber da ist nichts gelaufen. Ich habe meine Arbeit an dem Thema nach 1990 aus ganz persönlichen Gründen sehr reduziert.

Sind Sie zufrieden darüber wie die Debatte heute läuft?

Ach, ich freue mich, dass Menschen jetzt Geld kriegen, die das allerallerdringendst brauchen. Menschen, vor denen ich mich oft geschämt habe, die ja sahen, dass es mir, 1946 in Deutschland geboren, an nichts mangelte.

Fragen: Eva Rhode