Kein Geld, keine Bildung

New Labour preist ihr System schulischer Leistungskontrollen. Und verschärft dochnur das bestehende Zweiklassensystem

von RALF SOTSCHECK

Nach sechs Monaten hatte Torsten Friedag die Nase voll. Der 48-jährige Deutsche, der als Student nach Großbritannien gekommen war, sollte die George-Orwell-Schule im benachteiligten Londoner Stadtteil Islington retten. Die Schule musste im Juli vorigen Jahres vorübergehend schließen, weil nicht mal ein Zehntel der Schüler die Mittlere Reife geschafft hatte. Im September eröffnete sie unter neuem Namen.

Friedag wollte innerhalb von drei bis fünf Jahren erreichen, dass 45 Prozent der Schüler die Mittlere Reife abschließen, wie es landesweit Durchschnitt ist. Er war New Labours erster „Superdirektor“ mit einem Jahresgehalt von mehr als zweihunderttausend Mark. Im März gab er auf. Friedag fand, er habe nicht genügend Unterstützung erhalten. Die George-Orwell-Schule hatte zwar einen neuen Direktor und einen neuen Namen bekommen: „Islington Arts and Media School“. Das neue Schild wurde über den alten Namen genagelt, kurz bevor Bildungsminister David Blunkett die Schule unter großem Medienrummel eröffnete. Es wurde jedoch schnell klar, dass Friedags Schule eher ein Reklametrick für New Labour war als ein ernsthafter Versuch, die Krise der innerstädtischen Schulen zu bewältigen, die ständig mit Geldsorgen und Abwanderung der Schüler an „bessere“ Schulen in besseren Stadtteilen zu kämpfen haben.

Ein Beispiel dafür ist Premierminister Tony Blair. Er hütete sich 1994, seinen Sohn Euan auf die George-Orwell-Schule zu schicken, obwohl sie seiner Wohnung damals am nächsten lag. Statt dessen brachte er Euan jeden Morgen zur zwölf Kilometer entfernten katholischen London Oratory School in Fulham, weil sie einen guten Ruf hatte.

Damals saß Blair auf den Oppositionsbänken, inzwischen ist er in die Downing Street umgezogen und für Bildungspolitik mitverantwortlich. Die Tories hatten der Labourregierung den Wettkampf zwischen den Schulen hinterlassen: Seit 1992 werden weiterführende Schulen jedes Jahr in einer Leistungstabelle aufgelistet. Die Reihenfolge richtet sich nach den Prüfungsergebnissen der Schüler, deren Arbeiten von einer unabhängigen Kommission bewertet und verglichen werden. Seit 1996 gilt dieses System auch für Grundschulen.

New Labour hat diesen marktwirtschaftlichen Wettbewerb begeistert übernommen. Angeblich werde dadurch die Unterrichtsqualität verbessert, weil das Lehrpersonal sich ständig ins Zeug legen müsse, um die Schüler bei der Stange zu halten. Von der Blamage abgesehen, hat die Tabelle finanzielle Konsequenzen für die Schulen auf den unteren Tabellenplätzen, denn die staatlichen Zuschüsse richten sich nach dem „Erfolg“. Bei der Messung wird sowohl der Standort der Schule als auch die Zusammensetzung der Klassen außer Acht gelassen. An Schulen in sozialen Brennpunkten werden dieselben Maßstäbe angelegt wie an solche im reichen Südwesten Englands. Die Regierung bejubelt ihr Freimarktbildungswesen als gelungene Reform und verweist auf einige Musterschulen, die sich seit Einführung der Tabellen vom Abstiegsplatz ins gesicherte Mittelfeld hoch gearbeitet haben. Dabei geht es freilich nicht immer mit rechten Dingen zu. Wenn die Karriere des Lehrers oder gar die Zukunft der Schule von einer Leistungsstatistik abhängt, ist der Anreiz zum Schummeln groß.

Der Guardian deckte auf, dass Lehrkräfte die Examensarbeiten für ihre Schüler selbst schreiben. Das sei keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel, schreibt das Blatt. Bei Konferenzen der Lehrergewerkschaft werden Prüfungsfragen gehandelt, denn die Direktoren erhalten die Umschläge mit den Fragen zehn Tage vor dem Examen. Kaum jemand hält sich an die Vorschrift, den Umschlag erst am Prüfungstag zu öffnen. Wenn sie die Arbeiten nicht gleich selbst schreiben, dekorieren die Lehrer die Wände des Prüfungszimmers mit Karten oder Schaubildern, aus denen die korrekten Antworten zu entnehmen sind, oder sie geben direkte Tipps.

Sogar Klassenbücher werden vom Lehrpersonal gefälscht – Manipulationen, die demnächst noch zunehmen werden: Denn Blunkett hat erklärt, dass die Schwänzerei bis 2002 um dreißig Prozent gesenkt werden müsse. Den Schulen, die diese Vorgabe nicht erfüllen, werden die Mittel gekürzt. Dasselbe gilt für den Ausschluss von Schülern vom Unterricht. Viele Schulen greifen daher zur Erpressung. Den Eltern unliebsamer Schüler wird klar gemacht, dass sie ihr Kind schleunigst von der Schule abmelden sollten, weil es andernfalls hinausgeworfen würde, und solch ein Schulverweis bleibe lebenslang in der Personalakte.

Die Regierung profitiert nicht nur vom Betrug der Lehrer, sondern trägt aktiv dazu bei, damit sie ihre Bildungspolitik als Erfolg verkaufen kann. So sind die Abiturprüfungen im vorigen Jahr leichter geworden, der Notendurchschnitt verbesserte sich in ganz Britannien schlagartig. Darüber hinaus werden auch bei der Korrektur der Examensarbeiten oft beide Augen zugedrückt: Bei einer Geschichtsprüfung beispielsweise reichte es 1999 aus, wenn die korrekte Jahreszahl irgendwo in der Arbeit auftauchte, selbst wenn sie sich auf eine ganz andere Frage bezog.

New Labour, und das gilt nicht nur für die Bildungspolitik, ist am Design interessiert, nicht an der Substanz. Die Maßnahmen, die wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit ergriffen worden sind, tragen nicht nur wenig zur Verbesserung des Schulniveaus bei, sondern verschlechtern es in manchen Fällen sogar. „Fresh Start“ heißt das Schlagwort, das New Labour aus San Francisco übernommen hat. Dabei wurde das Prinzip, die als gescheitert eingestuften Schulen zu schließen und mit neuem Lehrpersonal wieder zu eröffnen, bereits 1997 vom US-Lehrerverband als „politisch populär, aber bildungspolitisch bankrott“ kritisiert. Im selben Jahr übernahm die Labourregierung das Programm.

Eine ganze Reihe von Schulen, die den „Sondermaßnahmen“ – der Vorstufe des „Fresh Start“ mit Veränderungen im Lehrbetrieb und der Verwaltung der Schulen – unterworfen werden, sind daraufhin dem Untergang geweiht. Aufgrund der schlechten Presse melden engagierte Eltern ihren Nachwuchs an anderen Schulen an, und Lehrkräfte, die Karriere machen wollen, beantragen ihre Versetzung. Die Phoenixschule im Londoner Stadtteil Hammersmith etwa bekam 1994 Sondermaßnahmen verordnet. Damals hatten siebzehn Prozent der Schüler die Mittlere Reife in fünf Fächern abgeschlossen, 1999 waren es nur noch fünf Prozent.

Auch der Unterricht leidet unter dem Wettbewerb: Fächer wie Theater oder Sport, die nicht geprüft werden, fallen weg, manche Schulen haben Deutsch und Französisch abgeschafft und bieten dafür chinesisches Mandarin an, weil die Prüfung leichter ist.

Für die Schüler beginnt der Überlebenskampf praktisch am ersten Schultag: Wer in der Grundschule nicht mitkommt, hat keine Möglichkeit, später auf eine gute weiterführende Schule zu kommen. Die Schulen suchen sich die Schüler aus, die ihre Statistik verbessern. Die dreißig Prozent der britischen Kinder, die in Armut leben, haben kaum eine Chance. Keiner will sie, denn sie stammen aus Familien, in denen Bücher und Bildung ein Luxus sind. Keine Schule kann es sich heutzutage leisten, sich intensiv um solche Kinder zu kümmern, und so werden sie an Schulen abgeschoben, die in der Statistik ohnehin ganz unten stehen.

Die Topschulen hingegen werben Kinder an, die gar nicht in ihrem Einzugsgebiet wohnen, weil sie den Ruf und die finanziellen Zuwendungen mehren. So werden die guten Schulen immer besser und die schlechten immer schlechter, das Zweiklassenbildungssystem wird festgeschrieben.

Die Umverteilung der Bildungsmittel von den Bedürftigen auf die Reichen hat in Großbritannien Tradition. 1869 beschloss die Regierung auf Empfehlung ihrer Bildungskommission, die kostenlosen Schulen für die Armen zu schließen und die Gelder, die für den Schulbetrieb vorgesehen waren, in „die Erweiterung der Bildungseinrichtungen für die Mittelschicht“ zu stecken. New Labours Bildungsreform läuft auf das gleiche Ergebnis hinaus.

RALF SOTSCHECK, 46, lebt als taz-Korrespondent für Irland und Großbritannien in Dublin