Der Bündnissucher

Subhas Chandra Bose war Mitkämpfer Mahatma Gandhis und Jawaharlal Nehrus.In den Vierzigerjahren setzte er auf Nazideutschland, später auf Japan. Noch heute wird Bose in Indien tief verehrt

von SEVERIN WEILAND

Das kleine Verkaufshaus am Mahatma Gandhi Memorial in Delhi wartet mit einer bunten Mischung auf. Fast alles, was der Vater des zivilen Widerstands geschrieben und gesagt hat, wird hier ausgelegt – vom Buch bis hin zum Traktat mit den Weisheiten für den täglichen Hausgebrauch. Unter der Auslage finden sich aber auch, irritierend für den europäischen Besucher, Schriften eines Mannes, der im Gegensatz zu Mahatma Gandhi auf den bewaffneten Kampf setzte: Subhas Chandra Bose.

Dabei ist der „Patriot der Patrioten“, wie ihn selbst die seriöse Times of India bezeichnet, einer der umstrittensten Figuren der Zeitgeschichte, setzte er doch auf die Unterstützung Nazideutschlands und Japans bei der Befreiung seines Landes von britischer Kolonialherrschaft. Boses letzte Lebensjahre sind indes der Stoff, der viele Inder fasziniert und aus dem Mythen geboren werden: Von den Briten verfolgt, kommt er 1941 über Afghanistan und Moskau nach Berlin, kämpft später unter den Japanern und stirbt am 18. August 1945 an den Folgen eines Flugzeugabsturzes über Formosa, dem heutigen Taiwan.

Das sind Wechselfälle eines Lebens, wie es sich auch der wundersamste Regisseur in Bollywood, der indischen Kinometropole in Bombay, nicht farbenprächtiger ausmalen könnte. Und so ist es kaum verwunderlich, dass 55 Jahre nach Boses Tod ein Teil der indischen Öffentlichkeit das Hohelied auf Bose anstimmt. Anfang August dieses Jahres wurde gar in Kalkutta, wo Bose in den Zwanzigerjahren Oberbürgermeister wurde, eine staatliche Kommission ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Boses angeblich so „mysteriösen Tod“ zu untersuchen.

Fakten – sein Tod ist hinlänglich dokumentiert – können viele Inder in ihrer fast religiös anmutenden Verehrung kaum erschüttern. Bis heute lautet eine der hartnäckigsten Verschwörungstheorien, er sei nach Sibirien geflohen. Dort habe ihn die UdSSR ins Lager gesteckt. Noch in den Sechzigerjahren hofften viele Inder, Bose werde in der Art eines hinduistischen Messias zurückkehren und ihr Land von seiner Rückständigkeit erlösen.

Nüchtern betrachtet war der „Märtyrer“, wie er auf einer der zahlreichen privaten Homepages in diesen Tagen gefeiert wird, einer jener Männer, die in einem Moment der Weltgeschichte die falschen Schlüsse zogen und damit ihr eigenes Ende einläuteten.

Der Weg in den Abgrund begann für Bose zur Jahreswende 1939/40, als er glaubte, Großbritannien liege politisch am Boden. Er rief in Indien zum bewaffneten Widerstand gegen die Kolonialmacht auf. Seine Reden isolierten ihn schnell – zunächst innerhalb des von Gandhi dominierten Congress, in dem er schon bald in die Minderheit geriet. Schließlich wurde er 1940 von den Briten wegen Volksverhetzung unter Hausarrest gestellt. Dem bevorstehenden Prozess entzog sich Bose im Februar 1941 durch Flucht. Er gelangte nach Kabul und von dort mit Hilfe der deutschen Abwehr und falscher Papiere via Moskau nach Deutschland.

Hier nun suchte er um Hilfe bei jenen nach, die ihm 1941 unschlagbar schienen. Hitlers Armeen hatten zu diesem Zeitpunkt Polen und halb Westeuropa unter Kontrolle gebracht. Der Zusammenbruch des britischen Empires, glaubte Bose, sei nur eine Frage der Zeit.

Dabei war das Dritte Reich als Bündnispartner nur seine zweite Wahl gewesen. Wenige Wochen zuvor noch hatte er in Kabul erfolglos versucht, die sowjetische Botschaft zu kontaktieren. Bose träumte seit den Dreißigerjahren von einer Synthese aus Kommunismus und dem italienischen Faschismus der frühen Jahre. Nazideutschland hingegen war der denkbar schlechteste Platz, von dem aus Bose seinen Kampf weiterführen konnte. Das wusste er aus eigener Erfahrung: Während seines ersten Aufenthalts 1933/34 in Berlin hatte er den Rassismus der Nazis aus nächster Nähe mit Abscheu verfolgt. In Briefen an das Auswärtige Amt und den Indischen Ausschuss der Deutschen Akademie in München beklagte er sich 1934 über die geplante Rassengesetzgebung und die unfreundliche Haltung der Bevölkerung gegenüber den Indern (damals lebten rund hundert Inder im Deutschen Reich!). Doch früheren Eindrücken zum Trotz war Bose bereit, sich mit den Nazis einzulassen und die Unabhängigkeit für Indien zu erringen. „Koste es, was es wolle“, erklärte er gegenüber einer deutschen Bekannten.

In Hitlers Berlin wurde Bose, damals 44 Jahre alt, zu gleichen Teilen aus- und hingehalten. Das Auswärtige Amt verschaffte ihm eine Villa in Charlottenburg, in die er mit seiner langjährigen österreichischen Freundin Emilie Schenkl einzog (aus der Verbindung ging Ende 1942 eine Tochter hervor). Er wurde Leiter einer eigens errichteten „Zentralstelle Freies Indien“, und schon Ende 1941 begann von Berlin aus über Azad Hind Radio die Ausstrahlung von Sendungen nach Indien. Vom Frühjahr 1942 an sprach Bose selbst, dessen Anwesenheit in Deutschland zunächst geheim gehalten worden war.

Zusätzlich begann die Wehrmacht mit der Ausbildung indischer Soldaten, die in Nordafrika als Angehörige der britischen Armee in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Rund 2.500 Mann, mit einem Eid auf Hitler und Bose eingeschworen, sollten bis 1945 an der Seite der Deutschen kämpfen.

Ungeachtet dieser Maßnahmen war die Politik Berlins gegenüber Indien sprunghaft, uneinheitlich und von keinerlei Konzept getragen; nicht zuletzt wegen der wirren und zutiefst irrationalen Rassenpolitik der Nazis. Zwar galt der Subkontinent einigen Forschern als Ausgangsort der indogermanischen Völkerwanderung. Doch der Arierbegriff der Nazis war im Kern „germanisch“. Insbesondere der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg behauptete, die „Arier mit nordischem Blut“ seien nach Indien eingedrungen, wo sie sich im Laufe der Zeit mit der „schwarzbraunen“ Urbevölkerung zu ihrem Nachteil vermischt hätten.

Und Hitler? In „Mein Kampf“ hatte er die Inder als „minderwertige Rasse“ bezeichnet. Insgeheim bewunderte er die Herrschaft der hunderttausend Briten über 350 Millionen Inder. Sie schien ihm Modell für sein Konzept eines Weltreichs. Beharrlich überging man Boses Appelle, doch endlich eine indische Exilregierung auszurufen. Tief deprimierte ihn der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941. Gegenüber einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes stellte er resigniert fest, dass die indischen Intellektuellen Russland bewunderten und Deutschland in ihren Augen folglich ein Aggressor sei und „somit auch eine imperialistische Kraft“, die Indien gefährlich werden könne. Das von ihm lang ersehnte Treffen mit Hitler Ende Mai 1942 geriet schließlich vollends zum Desaster.

Hitler wich allen Wünschen nach einem Engagement in der Indienfrage aus. Einzige konkrete Äußerung: Er riet Bose, nach Japan zu gehen, um aus dessen Herrschaftsbereich nach Indien hineinzuwirken.

Bose verstand den Wink. Auch als im August 1942 Gandhi die Briten zum sofortigen Verlassen Indiens aufrief und kurz darauf die führenden Mitglieder des Congress verhaftet wurden, kam von deutscher Seite keinerlei Unterstützung. Bose kontaktierte über die japanische Botschaft in Berlin Tokio. Seine Überlegungen entsprachen einem rationalen Kalkül: Japan hatte die Briten im Frühjahr 1942 bis weit nach Birma hineingetrieben. Zudem waren Zehntausende indischer Soldaten in japanische Gefangenschaft geraten. Hier also gab es ein Wirkungsfeld für ihn, zumal er in Japan seiner Heimat näher war.

Nachdem Japan seine Einwilligung signalisiert hatte, machte sich Bose erneut auf eine abenteuerliche Reise: Zusammen mit einem indischen Gehilfen bestieg er im Februar 1943 in Kiel ein deutsches U-Boot. Zwei Monate später wurde er östlich von Madagaskar von einem japanisches U-Boot übernommen und nach Japan gebracht.

Mit Tokio glaubte Bose einen verlässlichen Partner gefunden zu haben. Zunächst sah es auch ganz danach aus. Die Japaner machten ihn zum Oberkommandierenden der „Indian National Army“ (INA), einer 35.000 Mann starken Truppe. Der Kern bestand aus indischen Soldaten, die sich im Februar 1942 in Singapur zusammen mit ihren britischen Kameraden den Japanern ergeben hatten. Von Anfang an gefiel sich Bose in der Rolle eines Militärs – auch wenn er selbst keinerlei militärische Erfahrungen besaß. Von 1943 an ließ er sich in einer eigens maßgeschneiderten Uniform ablichten – mit Reiterhosen und Schaftstiefeln, seinem Vorbild Mussolini ähnelnd.

Diese Bilder sind es vor allem, die heute nationalistische Inder gern aufstellen, wenn es Bose zu feiern gilt. Als sein 100. Geburtstag am 23. Januar 1997 in Kalkutta begangen wurde, prangten überlebensgroße Porträts von ihm in der Stadt. Doch ähnlich wie Berlin hat Tokio Bose als Partner nie wirklich ernst genommen. Seine INA war schlecht ausgerüstet und wurde von den japanischen Offizieren in der Regel arrogant behandelt. Solche Details spielen heutzutage kaum eine Rolle.

Bose ist der Geschichte längst enthoben. Nun soll Boses Asche, die in einem buddhistischen Tempel in Tokio lagert, in die Heimat zurückgebracht werden. Selbst Indiens Außenminister konnte sich dem Druck von Boses Anhängern nicht entziehen: Man werde sich, sagte Jaswanth Singh bei einem Besuch Japans 1999, für diesen Wunsch einsetzen.

SEVERIN WEILAND, 36, taz-Inlandsredakteur, lebte bis Mai 2000 ein Jahr in Nepal