Die „Begabungsreserve“ pfeift auf die Demokratie

11. Jugendhilfetag in Nürnberg: Schröder erklärt, warum das Sparen der Jugend hilft. Studie: Im Osten immer weniger Vertrauen in die Demokratie

NÜRNBERG taz ■ Parolen gegen die „US-Imperialisten“ werden skandiert, rund 100 Mitstreiter der „Sozialistischen Aktion“ tanzen auf der Bühne Walzer, aus dem Saal ertönen Protestschreie und zu guter Letzt verunglückt auch noch ein Polizeifahrzeug – der 4. Deutsche Jugendhilfetag in Nürnberg endet im Chaos.

Das war 1970. Dreißig Jahre später, auf dem 11. Deutschen Jugendhilfetag, verläuft alles in geordneten Bahnen. Kanzler Gerhard Schröder erntet Applaus für seine „nachhaltige Sparpolitik“ und Bayerns stellvertretende Ministerpräsidentin Barbara Stamm darf ungestört ein Plädoyer für Wertegemeinschaft, Familie und Ehe halten. Etwa 25.000 Jugendhelfer und Sozialarbeiter haben sich in Nürnberg versammelt. Alle vier Jahre findet der von der Arbeitsgemeinschaft der Jugendhilfe (AGJ), einem Zusammenschluss von 84 Trägern derJugendhilfe, veranstaltete Großkongress statt. Der AGJ-Vorsitzende Reiner Prölß, weit entfernt von der 70er-Jahre-Protestattitüde, rammt dennoch ein paar Pflöcke ein: „Kinder und Jugendliche dürfen nicht nur als Marktsegmente, sondern müssen als integraler Bestandteil der Gesellschaft betrachtet werden.“ Jugendhilfe sei „mehr als ein gesellschaftlicher Reparaturbetrieb“.

Schröder dagegen nutzt die Gelegenheit, um den Sparkurs der Bundesregierung als „nachhaltige Finanzpolitik“ zu rechtfertigen. Nur so könnten „Gestaltungsspielräume für die nächsten Generationen“ geschaffen werden. Mit „ökonomischer Vernunft“ will Schröder aber auch den Trend brechen, dass immer weniger Studienanfänger aus ärmeren Familien kommen. „Wir können es uns nicht leisten, Begabungsreserven in unserem Volk nicht auszuschöpfen.“ Über das Bafög-Programm will Schröder mit einer halben Milliarde Mark den Anteil der ärmeren StudentInnen von knapp 15 auf über 20 Prozent erhöhen.

Einen „Skandal“ nennt der Kanzler die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Es mache aber „keinen Sinn, Jugendlichen vorzuwerfen, dass sie in den rechten Sumpf abmarschieren, wenn wir ihnen keine Berufsperspektive bieten“.

Genau solche fehlenden Perspektiven macht Jugendministerin Christine Bergmann für die Ergebnisse einer neuen Studie des „Deutschen Jugendinstituts“ (DJI) verantwortlich. Sie belegt, dass in den neuen Bundesländern die Zufriedenheit mit der Demokratie bei Jugendlichen zwischen 16 und 29 Jahren seit 1992 stark abgenommen hat.

Ob die Jugendhilfe für diese Jugendlichen Perspektiven schaffen kann, bezweifelt der Tübinger Professor Hans Thiersch. Scharf kontert er Schröder: Nach wie vor gebe es den Trend, in der Jugendhilfe immer mehr zu sparen, präventive sowie Stadtteilarbeit zu vernachlässigen und „bei schwierigen Kindern auf die Zuständigkeit der Psychiatrie und der Polizei zu warten“. Die Jugendhilfe dürfe ihr Klientel nicht in solche, „bei denen es sich lohnt“, und in solche, „die immer nur Probleme machen“, aufteilen. Denn die veranstalten keine Tumulte vor Kongresshallen, sondern marschieren mit Nazi-Fahnen durchs Brandenburger Tor. BERND SIEGLER