Grausames Spiel mit der Angst

Geiselnahme wird immer mysteriöser: Bekenneranrufe werden zurückgenommen, Geiselbeobachtungen dementiert: Stunde der Trittbrettfahrer

von JUTTA LIETSCH

Während die malaysische Armee, unterstützt von der Küstenwache der benachbarten Philippinen, ihre Patrouillenboote durch die abgelegene Inselwelt nordöstlich von Borneo schickte, meldete sich gestern morgen ein Mann bei einem philippinischen Radiosender: Die Geiseln, behauptete er, seien von seiner militanten muslimischen Organisation namens Abu Sayyaf gekidnappt worden. „Wir sind verantwortlich für die Entführung dieser Ausländer.“ Die Gruppe habe „noch weitere Überraschungen für die Regierung“ auf Lager, drohte der Anrufer weiter.

Es schien sich zu bestätigen, dass der Überfall auf die Urlauber und Angestellten des Inselbadeorts am Wochenende einen politischen Hintergrund hat. Denn hinter „Abu Sayyaf“ verbirgt sich die berüchtigste der Rebellengruppen, die im nahe gelegenen Süden der Philippinen für einen eigenen islamischen Staat kämpfen. (siehe Bericht unten)

Die Truppe hält bereits seit fünf Wochen in einem anderen Geiseldrama, auf der Insel Basilan rund 800 Kilometer südlich von Manila, 27 Menschen gefangen. Ihr Ziel: Sie wollen die Freilassung von fünf militanten Islamisten aus dem Gefängnis erpressen. Drei von ihnen sind in den USA wegen des Bombenattentats auf das World Trade Center von New York im Jahr 1993 inhaftiert. Im Laufe des gestrigen Tages verdichteten sich jedoch die Zweifel, ob die Gruppe wirklich für den malaysischen Überfall verantwortlich ist. Womöglich versucht sie nur, vom internationalen Aufsehen zu profitieren. Die Rebellen der Abu Sayyaf stehen unter starkem Druck: Seit Samstag versucht die philippinische Armee, ihren Stützpunkt mit Gewalt einzunehmen, um ihre Opfer – überwiegend Schulkinder – zu befreien.

Gegen Mittag meldete sich ein Sprecher von Abu Sayyaf und erklärte: „Wir sagen nicht, dass wir es getan haben, und wir sagen nicht, dass wir es nicht waren. Das ist ein Rätsel für die Regierung.“ Inzwischen suchten die malaysischen Behörden nach Komplizen: Polizisten verhafteten fünf Malaysier, darunter zwei Bootsführer von Sipadan und einer Nachbarinsel. Die Schwester der philippinischen Geisel berichtete später, die Entführer hätten sich beim Besitzer der Ferienanlage „Pulau Sipadan Resort“ gemeldet und ein Lösegeld gefordert. Geht es den Tätern also doch nicht um politische Forderungen, sondern um Geld?

Sipadan – ein malerisches Eiland, das unter Tauchern wegen seiner wunderbaren Korallenriffe beliebt ist – lag gestern weitgehend verlassen da: Geschockt von dem Überfall hatte ein großer Teil der Urlauber sich auf eine Nachbarinsel evakuieren lassen. Der normale Fährverkehr wurde unterbrochen. Bewaffnete Zivilpolizisten hinderten Schaulustige und Journalisten daran, mit gecharterten Booten an die Küste zu gelangen. Einige unerschrockene Urlauber, die auf Sipadan zurückgeblieben waren, wurden allerdings gesichtet, wie sie zwischen den Polizeikähnen schnorchelten.

Die am Sonntagabend überfallene Ferienanlage gehört zu nur sechs Urlaubseinrichtungen, auf dem 12 Hektar großen Fleckchen Erde. Dessen natürliche Schönheit war von den Behörden in den letzten Jahren besonders streng geschützt worden: So durften bislang täglich nicht mehr als 80 Besucher auf die Insel gebracht werden.

Viele Spekulationen gab es zunächst über den Aufenthaltsort der Geiseln. Augenzeugen hatten gesehen, wie die zwei Boote mit den Entführten in Richtung der nächsten philippinischen Insel fuhren. Aber ob sie dort noch sind? Widersprüchliche Informationen gaben gestern auch die malaysischen Behörden: Ein Minister erklärte zunachst, der Aufenthalt der Entführten sei „bekannt“. Wenig später sagte jedoch der Polizeichef des Bundesstaates Sabah, vor der Sipadan liegt, man habe noch keine Spur von den Gesuchten.

James und Mary Murphy, zwei amerikanische Touristen, hatten großes Glück: Weil die Frau nicht zu den Booten der Entführer schwimmen konnte, hatte auch ihr Mann sich geweigert, die Insel zu verlassen. „Sie müssen mich schon erschießen“, hatte er gesagt. Den beiden gelang es, sich in den Büschen am Ufer zu verstecken. Gestern trafen sie in Kuala Lumpur ein. Um die Sicherheit der Geiseln nicht zu gefährden, wollten sie zunächst nichts über ihre Erlebnisse berichten.