Belastende Ermittlungen gegen Flüchtlinge

■ Der Verbandsvorsitzende der jüdischen Gemeinden Niedersachsens sagt zu den Delmenhorster Ermittlungen: Wir haben „Probleme“, wenn man unsere Mitglieder zu „Kriminellen“ macht

In Delmenhorst sehen sich jüdische Kontingentflüchtlinge im Sozialhilfebezug in einer schwierigen Lage. Viele empfinden die Art, mit der das Delmenhorster Sozialamt nach Wohneigentum in ihren Herkunftsländern ermittelt, als Schikane (die taz berichtete). Einge fühlen sich zu Unrecht kriminalisiert. Das Sozialamt verweist unterdessen auf die Gesetzeslage – und auf erste Ermittlungserfolge. Ein klassischer Konflikt, könnte man meinen – gäbe es da nicht Belege, wonach die akribischen Ermittlungen sich zuerst gegen jüdische Einwanderer richteten. Und wäre da nicht eine interne Statistik über „straffällige jüdische Emigranten“ im Sozialhilfebezug.

Die taz sprach aus diesem Grund mit Michael Fürst, dem Vorsitzenden vom Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, über die Situation von Kontingentflüchtlingen und über die Folgen der jetzigen Ermittlungen.

taz: Herr Fürst, um welche Personengruppe handelt es sich bei jüdischen Kontingentflüchtlingen?

Michael Fürst: Es handelt sich um Menschen jüdischen Glaubens, insbesondere aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aus der Ukraine, aus Russland, aus Weißrussland und so weiter, die dort wegen Diskriminierung und Benachteiligung auf Grund ihres jüdischen Glaubens ausgewandert, geflüchtet sind. Diese Entwicklung begann 1988, noch vor der Öffnung der Mauer, anlässlich eines Besuches des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, in der DDR. Erstmals war die DDR damals bereit, an jüdische NS-Opfer Wiedergutmachungszahlungen zu erwägen – und vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Übergriffe in der damaligen Sowjetunion insbesondere durch die rechtsextremistische Pamjat-Bewegung sogar 5.000 Flüchtlinge in der DDR aufzunehmen. Ein bemerkenswerter Vorgang für den Satellitenstaat DDR. Aber für die eingewanderten Juden war es dort nicht einfach. Es gab so gut wie keine jüdische Infrastruktur. Mit dem Fall der Mauer sind viele auch wegen der Fremdenfeindlichkeit in der DDR sofort in den Westen gezogen. Jeden Morgen saßen damals neue Flüchlinge vor unserer Gemeinde in Hannover, und es kamen immer mehr, aber wir hatten keine finanziellen Möglichkeiten zu helfen. Da haben wir uns ans Land Niedersachsen gewendet. Gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen wurde Niedersachsen auf Grund einer alten Regelung über Kontingentflüchtlinge, die zuletzt für die Boat-People aus Vietnam galt, führend in der Bewältigung dieser Lage, wobei wir mit der Bundes- und der Länderregierung vereinbaren konnten, dass es keine zahlenmäßige Zuzugsbegrenzung geben würde.

Was hat die Einwanderung für die jüdischen Gemeinden in Deutschland bedeutet?

Enormes. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland standen wegen der geringen Mitgliedszahlen damals vor dem Aussterben. Hannover beispielsweise hat heute rund 3.500 Mitglieder. Vor zehn Jahren waren es 450. Damals gab es drei jüdische Gemeinden in Niedersachsen, heute sind es zehn. Die Einwanderung hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stabilisiert. Zugleich war sie eine weitaus größere Herausforderung als der Neubeginn nach 1945. Denn 1945 war die polnische jüdische Kultur prägend; die Leute hatten einen jüdischen Bezug und jüdische Erziehung. Von all dem weiß der überwiegende Teil der hier in Deutschland lebenden 70.000 Kontingentflüchtlinge wenig. In der Sowjet-union seit Stalin wurde ja keine Religion gefördert.

Mit welcher Perspektive sind die Menschen nach Deutschland gekommen?

Sie erwarteten vor allem Freiheit – und sicher auch ein wirtschaftlich gesundes Leben. Dass sie hier in ein Land kommen, in dem es auch Antisemitismus gibt, damit haben sie nicht gerechnet. Aber sie wollten hierher kommen. Deutschland hat die drittgrößte jüdische Gemeinschaft Europas – nach Frankreich und England. Aber anders als diese Länder nimmt Deutschland bereitwillig auf.

Viele der Einwanderer leben von Sozialhilfe. Warum?

Die jüdischen Emigranten kommen eigentlich aus relativ guten Verhältnissen, viele von ihnen sind hoch gebildet. Die ersten Einwanderer waren überwiegend Mediziner, Ingenieure, Musiker, Mathematiker – Berufe, nach denen es in Deutschland keine Nachfrage gab. Die zweite Gruppe waren gehobene Facharbeiter, die dritte „das normale Volk“. Für alle gilt: Wenn sie über 40 Jahre alt sind, gelingt ein beruflicher Neuanfang selten.

In den Ländern der GUS war hoher Bildungsstand nie mit Besitz gekoppelt. In Delmenhorst hat das Sozialamt in verschiedenen Fällen Wohneigentum ermittelt – „in einem Umfang, der den Normalbürger erstaunen würde“, wie der dortige zuständige Sozialdezernent sagt. Kennen Sie die Hintergründe dieses Erwerbs von Eigentum?

Nein, ich kenne keinen Einzelfall.

Was bedeuten die Ermittlungen der Sozialämter für die jüdischen Gemeinden?

Sie belasten, weil wir als Körperschaft öffentlichen Rechts verpflichtet sind, dem Staat zu helfen, Erkenntnisse zu gewinnen. Andererseits werden wir unsere Mitglieder nicht überprüfen. Natürlich machen wir klar, dass sie ihre Vermögensverhältnisse offen legen müssen – auch wenn sie davon ausgehen, dass sie kein Vermögen besitzen. Ich will ein Beispiel nennen. Bestimmt gibt es Einwanderer, die eine Eigentumswohnung im Herkunftsland haben, die sie aber nicht verwerten können. Dann tut man hier so als ob sie dort Vermögen haben und macht sie zu Kriminellen, die etwas verheimlichen. Damit haben wir unsere Probleme.

Was bedeuten die Nachforschungen für die Betroffenen?

Die meisten haben ihr Leben lang gearbeitet. Für sie ist es ein schweres Schicksal, von Sozialhilfe abhängig zu sein. Das können wir ihnen nicht ersparen. Sobald aber strafrechtliche Ermittlungen beginnen, fühlen sich diese Menschen in eine existenziell bedrohliche Situation gedrängt, in die sie nie geraten wollten – und in die sie nach unserer Auffassung auch nicht gehören. Aus meiner Sicht handelt es sich höchstens um bußgeldrechtliche Probleme, aber nicht um kriminelle Delikte.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, in der jetzigen Situation zu vermitteln?

Wir haben vorgeschlagen, den Erlös aus dem Verkauf von Eigentum in den GUS-Staaten in unwiderrufliche Lebensversicherungen fließen zu lassen. Davon hätten die Flüchtlinge später etwas – aber auch die öffentliche Hand. Denn der Ertrag daraus würde auf die Sozialhilfe angerechnet und die Sozialkasse so entlastet. Diese Umschichtung würde den Betroffenen entgegenkommen, weil sie damit weniger auf Sozialhilfe angewiesen wären. Ich kann nur jedem empfehlen, sein Eigentum vor der Einreise zu verkaufen.

Fragen: Eva Rhode