Urgroßmutter des Weizens

Das Einkorn findet seinen Weg zurück auf den Acker. In der Schweiz läuft ein Naturschutzprojekt, das den Anbaudieser alten Getreidesorte fördert. Bäcker müssen sich das Wissen um seine Besonderheiten erst wieder aneignen

Als die Wissenschaftler den 5.000 Jahre alten Steinzeitmenschen „Ötzi“ untersuchten, fanden sie bei ihm Körner und Strohreste einer bei uns heute inzwischen nahezu unbekannten Getreidesorte. Es war das Einkorn – eine der ältesten Nutzpflanzen der Menschheit. Vor rund 10.000 Jahren begannen die Menschen im Ursprungsgebiet von Euphrat und Tigris damit, aus Wildgräsern Getreide zu züchten. Eine der ersten Pflanzen, die sie anbauten, war das Einkorn. Daraus entwickelten sich später andere Sorten wie Emmer, Dinkel und Weizen. Weil diese ertragreicher waren, drängten sie das Einkorn allerdings schon recht bald an den Rand. Nur an wenigen Stellen auf dem Balkan, im Apennin, in der Schweiz und in Schwaben wurde der Urahn des Weizens auch im letzten Jahrhundert noch angebaut.

Mit Samen aus den letzten Beständen startete der Agrarbiologe Karl-Josef Müller auf seinem Hof im niedersächsischen Darzau mit Unterstützung einiger Biobauern und Bäcker ein Einkornprojekt. Mit großem Erfolg. Auf der Naturkostmesse Bio-Fach feierte das Getreide seine Rückkehr auf den Markt: als frisches Brot, aber auch abgepackt als Flocken oder leckere Kekse.

Aus Sicht der Verbraucher ist Einkorn ein edles und teures Getreide. Der Grund für den hohen Preis sind die biologisch bedingten geringen Erträge im Anbau. Denn beim Einkorn sitzt an der Ährenspindel nur jeweils ein Korn – daher der Name. Beim Weizen sind es vier bis fünf Körner, die zudem wesentlich größer sind. Dafür liegt Einkorn bei den Inhaltsstoffen vorn. Es enthält wesentlich mehr Mineralstoffe und Eiweiß als Weizen. Letzteres ist besonders reich an den essenziellen Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin, Methionin und Isoleucin. Wegen ihrer Bedeutung für den Nervenstoffwechsel gelten sie als Gehirnnahrung, die Wachheit, Konzentration und geistige Spannkraft steigern soll.

Auffallend ist auch der hohe Gehalt an Carotin, das Mehl und Gebäck einen gelben Ton verleiht. Aus dem Farbstoff entsteht im Körper das Vitamin A, das nicht nur die Sehkraft steigert, sondern auch vorbeugend gegen Darmkrebs wirken soll. Im Geschmack ist das Korn leicht nussig und kräftiger als Weizen. Ob Einkorn eine Alternative für Menschen mit Weizenunverträglichkeit sein kann, ist fraglich. Es enthält mehr Gliadine als Weizen – das sind die Aminosäuren, die für die allergische Reaktion verantwortlich gemacht werden.

Interessant aus landwirtschaftlicher Sicht ist Einkorn vor allem wegen seiner Anspruchslosigkeit in Bezug auf Witterung und Bodenverhältnisse. Zudem ist es gegen zahlreiche Schädlinge und Krankheiten resistent, etwa gegen Wurzelfäule, Spelzenbräune oder Mutterkorn.

Wegen der geringen Erträge kommt der Anbau hauptsächlich in Randlagen oder für Biobauern in Frage. Die haben vor allem in Niedersachsen und Bayern schon erste Erfahrungen damit gesammelt. So sind die Äcker anfällig für Unkraut, weil das Getreide erst spät im Frühjahr zu wachsen beginnt, dann aber schnell und leuchtend hellgrün. Die Pflanzen sind langstieliger als Weizen und können deshalb vom Wind leicht niedergedrückt werden. Ein Vorteil ist der Spelz, eine zusätzliche Schale, die das Korn vor Umwelteinflüssen, Keimen und Schimmelpilzen schützt. Interessant ist auch das Stroh. Es ist reißfest und eignet sich gut zum Flechten.

Auch die Bäcker mussten das verloren gegangene Wissen erst wieder erarbeiten. Einkorn enthält weniger Gluten als Weizen, dadurch ist der Kleber, der den Teig zusammenhält, weicher. „Die Brötchen sind auseinander gelaufen“, schildert Volker Krause von der Bohlsener Mühle seine ersten Erfahrungen. Zusammen mit den Biobäckereien Märkisches Landbrot und Herzberger sowie den Bauern von der Erzeugergemeinschaft Öko-Korn-Nord hat er Müllers Forschungsarbeiten unterstützt. Inzwischen beliefert Krause rund 350 Naturkostläden in Norddeutschland mit Brot und Muffins. Dazu kommt jetzt ein Trockensortiment aus Körnern, Flocken und Keksen, das bundesweit in Bioläden angeboten wird. Mit der Resonanz bei den Verbrauchern ist die Mühle bisher sehr zufrieden.

Im Schweizer Kanton Schaffhausen läuft seit einigen Jahren ein Naturschutzprojekt, das den Anbau von Emmer und Einkorn fördert. Wegen des Verzichts auf Spritzmittel und des weniger intensiven Anbaus erhalten Ackerkräuter und viele Kleintiere einen neuen Lebensraum. Besonders das Rebhuhn fühlt sich in den Feldern mit altem Getreide wohl.

Einkorn kann man auch trinken. Die Riedenburger Brauerei, ein Biobetrieb aus Niederbayern, hat ein „Edel-Bier“ auf den Markt gebracht, das aus Einkornmalz gebraut wurde. Auch im „Ur-Bier“ derselben Firma, dessen Malz aus fünf alten Getreidesorten stammt, ist Einkorn vertreten.

LEO FRÜHSCHÜTZ