Erektionsfähigkeit gehört zum Leitbild des Mannes

Mit Viagra ereignete sich eine neue sexuelle Revolution – aber ob die Krankenkassendie Potenzpille finanzieren müssen, ist in der Bundesrepublik nach wie vor ungeklärt

Berlin (taz) – Erektionsprobleme gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten bei Männern. In der „Massachusetts“-Studie berichteten 52 Prozent aller Männer zwischen 40 und 70 Jahren über gelegentliche Erektionsschwierigkeiten, 35 Prozent hatten schwere Potenzstörungen. Für die USA wird eine Zahl von 30 Millionen Männern mit „erektiler Disfunktion“ angenommen. In der Bundesrepublik schwanken die Schätzungen für behandlungsbedürftige Männer zwischen 750.000 und vier Millionen.

In den 60er- und 70er-Jahren wurden Erektionsprobleme vorwiegend psychotherapeutisch behandelt. Versagensängste im Bett wurden verantwortlich gemacht. Inzwischen werden die organischen Ursachen stärker betont. Der Bostoner Impotenzforscher Abraham Morgentaler glaubt, dass in 80 Prozent der Fälle von Erektionsstörungen, die mindestens ein Jahr andauern, eine organische Ursache zugrunde liegt. Arterielle Gefäßverschlüsse oder eine mangelnde venöse Abdichtung des in den Penis einfließenden Bluts sind die häufigsten Ursachen. In der Vor-Viagra-Zeit sorgten Injektionen in den Penis oder Vakuumpumpen für frische Manneskraft.

Mit Viagra kam dann das erste orale Therapeutikum auf den Markt. Auch in hartnäckigen Fällen hatte es durchschlagenden Erfolg und war kinderleicht einzunehmen. „Eine neue sexuelle Revolution hatte sich ereignet“, kommentiert Morgentaler den Erfolg der Potenzpille. Das große Dilemma: Viele Männer mit Potenzstörungen sind zugleich herzkrank und dürfen in schweren Fällen die blaue Pille nicht einnehmen.

Wer allerdings denkt, er könne die Kosten der Lust sozialisieren, hat sich getäuscht. Die Krankenkassen tragen in keinem Fall die Kosten für den chemisch unterstützten Sex, sagt der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen. Zwar begründete das Gremium seine Entscheidung mit der Angst vor möglichem Missbrauch. Im Wesentlichen befürchtet der Ausschuss aber eine Kostenexplosion. Zwischen 7,5 und 22 Milliarden Mark schätzen Experten die Mehrausgaben für die Krankenkassen, sollte es Viagra auf Schein geben.

Wenig Respekt vor dem weihevollen Gremium der Gesundheitspolitik zeigt das Sozialgericht in Hannover. Es verurteilte die AOK dazu, einem 60-Jährigen Viagra zu zahlen. Der Mann, der wegen einer beidseitigen Nierentransplantation an Durchblutungsstörungen und infolgedessen auch an Potenzstörungen leidet, hatte auf Kostenübernahme geklagt. Er bekam Recht. Die Erektionsstörung sei eine behandlungsbedürftige Krankheit, befand das Gericht. „Die Erektionsfähigkeit gehört zum Leitbild des gesunden (auch älteren) Mannes“, begründen die Richter. (Az. S2KR485/99)

Sollte das Landessozialgericht Hannover als Berufungsinstanz diesem Spruch folgen, hätte die Regelung des Bundesausschusses kaum mehr eine bindende Wirkung: Die Kassen müssten für die Liebesperlen aufkommen. In Hannover wird frühestens in einem Jahr ein Urteil gefällt. man/roga