Vom Drehen der Welt

Bislang war das Theaterhaus Jena auf Experimente gebucht. Unter neuer Leitung soll es mehr Normalität wagen. Das Spielzeitmotto heißt trotzdem „Täter“ ■ Von Hartmut Krug

Wer das Theaterhaus Jena besucht, muss erst einmal in den Keller. Steil geht’s hinab ins behelfsmäßige Foyer unter der Bühne, und wenn man am Ende eines schmalen Ganges auf der anderen Seite zur Bühne auftaucht, warten ein einsamer Garderobenständer und, direkt vor die offene Bühne geklemmt, einige unbequem enge, steil ansteigende Stuhlreihen.

Im Theaterhaus Jena ist alles Bühne. Schauspieler und Zuschauer teilen sich den Bühnenturm, denn der marode Zuschauerraum wurde in den Achtzigerjahren weggesprengt. Doch statt eines neuen bekam man ein bis heute andauerndes Provisorium. Das die 20 jungen Leute, die im November 1991 hier im ungenutzten Bühnenturm ihr Theaterhaus Jena gründeten, als Chance begriffen: Statt eines ordentlichen Stadttheaters bekam Jena eine bunte Experimentierbühne, und nach anfänglichen Irritationen hat sich die Stadt mit ihr arrangiert – wohl auch wegen ihres überregionalen Renommees.

Die Rahmenbedingungen sind seit Jahren gleich: Stadt und Land teilen sich mit jeweils 1,3 Millionen Mark die Finanzierung und erwarten als Gegenleistung pro Spielzeit mindestens vier Premieren und 175 Vorstellungen. Neu ist nach neun erfolgreichen Jahren das Leitungsteam. Abnutzungserscheinungen und unterschiedliche Vorstellungen von Stil und Struktur des Hauses führten zu einem radikalen Schnitt. Die neue Leitung hat ihren Spielplan unter das Motto „Täter“ gestellt. Es geht um Menschen, die sich und die Welt alle auf ihre ganz eigene Weise verändern wollen. Das muss nicht durch Gewalt sein, es kann auch durch Liebe versucht werden.

Die Bühne ist die ganze Welt, und die Welt ist eine Scheibe. Die dreht sich oder wird gedreht. Von den Menschen, die diese, sich an den Wänden festhaltend, zum Kirmestrubel selbst antreiben. Martin Fischers Bühnenbild für Claudia Bauers „Woyzeck“-Inszenierung besitzt gleichermaßen großen ästhetischen Reiz wie dramaturgischen Sinn. Manchmal verschließt ein runder silberner Metallpanzer die Bühne, bis Fenster aufklappen und Marie hinausschaut ins bunte Leben mit dem paradierenden Tambourmajor. Tjadke Biallowons ist eine sehr heutige Marie, fest, selbstsicher und sehnsüchtig nach Welt, nach Lust und glitzerndem Leben. Und da steht er, der kleine Mann Woyzeck mit der unerwiderten großen Liebe: ganz nackt, wenn der Doktor ihn ausstellt und examiniert, ganz Wut und Energie, wenn er sich zum chancenlosen Kampf mit dem Major auf den Tanzboden begibt. Frank Benz spielt mit beeindruckender stiller Kraft einen Woyzeck, dem ganz schwindlig wird vom Drehen der Welt, die seine Frau in die Leidenschaft zu einem anderen schleudert.

Claudia Bauer, die 33-jährige neue Leiterin des Theaterhauses Jena, holt in ihrer stark gekürzten, bewusst fragmentarischen Version von Büchners „Woyzeck“ aus jeder Figur deren eigene innere Mechanik als bewegtes Lebensspiel auf die Bühne. Dann rasiert Woyzeck den Hauptmann mit den gleichen Bewegungen, mit denen er später Marie ersticht. Puppenhafte Bewegungen der auch musizierenden Darsteller, eine dynamische Choreografie und acht Darsteller, die sich mit disziplinierter Lust in ihre Rollen werfen, geben der Aufführung Schwung und Frische.

Walter Meierjohann, der zweite Regisseur im neuen Leitungsteam, hat sich für seinen Einstand in Jena, die zugleich seine Diplominszenierung für die Berliner Regieschule ist, Brechts „Baal“ ausgesucht. „Baal“ wurde, wie „Woyzeck“, für die Doppelpremiere auf anderthalb Spielstunden konzentriert. Zwischen beiden Aufführungen lag eine Pausenstunde mit Erbsensuppe, Sekt und Gesang.

Beim Jenaer „Baal“ ist die Welt eine Manege voll Torf und Laub. Sie wird umgeben von einem Kletternetz, wenn Baal mit seinem Kumpanen Ekart in die Welt und die Natur hinausgeht. Wieder ist das gesamte achtköpfige Ensemble im Einsatz. Niemand vom alten Ensemble wurde übernommen, alle sind neu und mit einer Ausnahme jünger als dreißig.

Doch der junge Regisseur Meierjohann quält sich und uns ohne Rhythmus und Kraft durch Brechts Szenen, er findet nur alte, vernutzte Gesten für dieses wild pubertäre Stück. Peinlich die „erotischen“ Szenen, blass die Titelfigur und äußerlich leer die Spielweise. Man sieht förmlich, wie die Schauspieler aus der schlichten Leere der Inszenierung sich in jeweils ihr eigenes Spiel zu retten suchen. Ein zweischneidiger Neubeginn in Jena.

Immerhin: Das neue junge Team traut sich was und will mit den beiden ersten Stücken ein Zeichen setzen. „Wir wollen große Geschichten erzählen“, betont Claudia Bauer. Die Zeit der reinen Performances und des Live-Art-Theaters scheint in Jena vorbei. Was nicht bedeutet, dass man vom „Avantgardetheater“ zum „normalen“ Stadttheater mutieren will. Der Begriff Avantgarde ist ja heute längst obsolet geworden und muss mit jeder Inszenierung neu definiert werden. „Athleten der Herzen“, so hieß ein freies Berliner Theaterprojekt von Claudia Bauer. Das benennt vielleicht die Art von Theater, die von der neuen Crew in Jena beabsichtigt ist: „Theater muss Gedicht/Zirkus/Ensemble sein.“ Die Darsteller sollen auch Musiker, vielleicht sogar Tänzer sein. Puppenspieler sind etliche der Schauspieler ohnehin schon nebenbei, und für „Woyzeck“ haben manche extra ein Instrument gelernt. Dagegen soll das Theater ganz für Menschen gemacht sein, gespielt von Menschen aus Fleisch und Blut – und mit Puppen. Nicht für ein so genanntes Zielpublikum, sondern für jeden, der neugierig auf Theater ist und sich hoffentlich in den erzählten Geschichten entdeckt.

Geplant sind für Februar ein Tarzan-Projekt und für März „Die Eingeborene“ von Franz Xaver Kroetz, dann ein Tanzstück und das große Open-Air-Spektakel „Jena kocht“. Als nächstes aber kommt ein Doppelprojekt über „Zimmertäter“: „Wunschkonzert“ von Kroetz und „K.’s Kasperlspiele“ von Lothar Trolle. Außerdem natürlich etliche Gastspiele (zum Beispiel „Der Totmacher“ vom Schauspiel Leipzig). Ab der nächsten Spielzeit sollen auch Gastregisseure inszenieren, während von Anfang an eine enge Zusammenarbeit mit der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule geplant ist. Auch wenn man nicht wie die alte Leitung viele Stäbe für Diskussion und Mitbestimmung einrichten will, so soll die Arbeit doch von Kollegialität und Mitbestimmung geprägt sein: „Das Haus ist so klein mit seinen 36 Mitarbeitern, da muss Demokratie von allein funktionieren.“