Akt auf Pritsche

Figurativ und romantisch, aber mit Konzept: Das Dia center for the arts in New York hat für Thomas Schütte eine dreiteilige Retrospektive eingerichtet ■ Von Susanne Altmann

Was findet New York nur an den Deutschen? 1999 bescherte der Stadt Ausstellungen von Anselm Kiefer im Metropolitan, Sigmar Polke im MoMA, und schließlich Joseph Beuys und Thomas Schütte, beide im Dia center for the arts. Womöglich liegt es daran, dass den Germanen, wie vor 100 Jahren im kulturellen Reformstrudel gern postuliert, in ihrem ernsten Trachten eine besondere Tiefe und Humorlosigkeit eigen sei – Züge, die man anderswo vermisst und die doch hehren Kunsttempeln immer noch angemessen scheint. Beuys und Kiefer jedenfalls könnten dafür einstehen. Und auch bei dem 1954 geborenen Thomas Schütte verdecken die Puppenstubenarchitekturen, Lumpenmännlein und bunten Keramikvölkchen kaum die Sehnsüchte des dahinter verborgenen Romantikers und Melancholikers.

Durch ihren Gründer, den Münchner Galeristen Heiner Friedrich, geprägt, hatte die damals noch Dia Foundation genannte Institution stets ein besonderes Faible für den Düsseldorfer Olymp. Beuys, Palermo, Knoebel, Richter, Fritsch gastierten hier. So kommt Schütte as no surprise. Das Dia adelte den 45-Jährigen mit einer ungewöhnlichen Retrospektive von drei Etappen zu je sechs Monaten. Als Gliederung der Trilogie wurde die dramaturgisch zugespitzte Abfolge von Bühne: „Scenewright“ (1998/99), Monument: „Gloria in Memoria“ (1999) und schließlich Figur: „In Medias Res“ (1999/2000) gewählt.

Begonnen hatte die Schütte-Serie im September 1998 mit seinen pseudotheatralen Inszenierungen aus den Achtzigerjahren: die „Westkunst“-Modelle, die raumfüllenden urbanen Alternativen „Piazza Uno“ und „Piazza Due“ und das mächtige Kulissenstück „Dreiakter“. Die in diesem Kontext älteste Arbeit, die „Große Mauer“ (1977), kam dabei den ortsbezogenen Vorlieben des Dia center am nächsten. Ein Schindelkleid aus rötlich bemalten Holzplättchen echote leise Schüttes Herkunft aus der Richterschen Schule. Dabei erinnerte es auch an den seriellen Konzeptualismus der Amerikaner, der den Düsseldorfer Studenten weiland beeindruckt hatte. Hier nun gewann die „Große Mauer“, die geschickt ein Fenster mit Blick auf die rotziegeligen Industriebauten Chelseas umrahmte, eine zeitgemäße Frische – als wäre sie gerade zum ersten Mal und genau für diesen Ort gezeigt worden. Mit derlei an amerikanischer Tradition geschulten Werken tut sich das New Yorker Publikum wesentlich leichter als mit den propagandistisch aufbereiteten Rollbildern des „Dreiakters“ (1982), das erstmals als umgehbares Dreieck installiert wurde, oder der Reflexion über Monumente in „Wo ist Hitlers Grab?“ von 1991. Als Interpretationsvehikel für Teil II wurden hier gern und verständlicherweise Verkürzungen aus der deutschen Vergangenheit bemüht.

Im dritten und letzten Teil der Schütte-Aufführung nun geht die Figur ganz eindrücklich zur Sache. Das Präludium bilden die „Urnen“ (1999), die sich zunächst nur in Maß und Gruppierung an Menschengestalten halten. Wie einst die „Fremden“, 1992 auf dem Giebel des Kasseler Kaufhauses Leffers zur documenta installiert, evozieren jetzt abstrakt-anmutige Keramikgefäße Sozialisations- und Gruppenverhalten. Ob an den ungelenken Golem oder an Urvater Adams „erwählte Hohlheit“ (Sloterdijk) gedacht wird – der Bildner Schütte spielt mit Ton ganz deutlich Schöpfungsakte nach, und auch das Verlöschen des Menschenwesens ist in der Metapher der Urne enthalten. Allerdings stehen die meisten der 17 Behälter mit der Öffnung nach unten und verweigern sich so Einblicken oder imaginären Füllungen, sei's mit göttlichem Atem oder Asche. Als irdene Artefakte genügen sie sich über Deutungen hinaus einfach selbst.

Matt schimmernde Glasuren in dunklem Rot, Braun und Beige sind betont nachlässig angebracht – welche Schöpfung ist schon perfekt? Der Mythos vom Künstler als Pendant zum universalen Gestalter schimmert häufig unter Schüttes rauhen Oberflächen durch. Reflexionen über das Dasein des Schaffenden schlechthin und damit auch Nabelschau bis zum Selbstmitleid wie in „Mohr's Life“ oder „Self-Portrait as Candle Holder“ (gezeigt in Teil II) sind Wege, die vom leidenden Schöpfer-Ich des Fin de Siècle gesäumt scheinen – ohne dessen Heroenstatus zu bedienen. Etwas Wehmut und das implizite „Dennoch“ klingen in einer Bemerkung an: „Aus meiner Sicht hat die figurative Tradition genau an dem Punkt versagt, als der Künstler die Helden eines demokratischen Systemes zu erschaffen hatte. Das leisten die Fernsehanstalten heute viel effektiver“, so Schütte 1998 im Interview mit James Lingwood.

Aus der keramischen Schule plaudert farbenfroh und kleinformatig das Skizzenbuch „Ceramic Sketches“ (1997–99). Es nimmt ganz unbeeindruckt ebenjene figurative Tradition auf. Auf Regalen reihen sich skulpturale Entwürfe, deren Zuckerguss- und Lebkuchenoptik respektlos in Richtung Essbarkeit oder Kunsthandwerk deutet. Wohin diese serielle Untersuchung von fleischigen Aktfiguren und Tonwürsten führte, zeigen dann die „Stahlfrauen“ („Steel Women I –  IV“, 1999) im Hauptraum. Gewiss spielen die korrodierten Riesenfrauen und ihre spartanischen Pritschen mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines „Liegenden Aktes“ heute. Insofern findet auch hier wieder der kunstinterne Dialog mit der Vergangenheit statt. Die Kenntnis von Schüttes strahlenden Metall-Figurinen, den eher männlichen „Großen Geistern“ lässt die weiblichen als seltsam passive Pendants erscheinen. Während die pseudopneumatischen Wülste der „Großen Geister“ prall und spannungsgeladen agieren, ist aus den Frauen gleichsam „die Luft raus“. Das auf den rostigen Bahren posierende „Fleisch“ lässt, wenn in handliche Scheiben gepresst, bald an die erhabene Schönheit des Schrottplatzes denken. Auch da erweist sich Schütte als ein Meister der Spannung zwischen formalen bzw. technischen und inhaltlichen Irritationen, wie von seinen Aquarellen und Keramiken her gewohnt. Dass er selbst, in Form von vier kreisrunden Selbstporträts, auf die einschüchternde Szenerie der „Steel Women“ blickt, gibt dem Ganzen eine biografische, fast pikante Note. Entstanden während des Blicks in einen Handspiegel, gesellt sich so zum Voyeurismus die gestrenge Vanitas.

Mit einem Memento mori schließt sich der Kreis von „In Medias Res“. Die Motive kehren zu den vermenschlichten Urnen des Anfangs zurück: Die Totenmaske eines Freundes war Vorlage für die überdimensionalen Köpfe „Head“ und „Green Head“ (1997). In zarter, nahezu akademischer Ausarbeitung gelingt Schütte damit eine dreifache Verknüpfung: Er setzt ein Denkmal, leistet heitere Trauerarbeit und straft nebenbei sein eigenes Verdikt vom Versagen der Figuration Lügen. Was will ein Künstler mehr?Bis Ende Februar im Dia center for the arts, New York (www.diacenter.org.) 1998 ist bei Phaidon eine Monografie zu Thomas Schütte erschienen.