Schütteln und Backen

■ Henning Harnisch

Von Dr. Tom Amberry, diesem Wahnsinnigen, der 2.500 Freiwürfe in Folge verwandelte, soll hier nicht die Rede sein. Der gehört ins Guinness-Buch der Rekorde, zu „Wetten, dass?“ und ins Land der Hobbyräume. Stattdessen ist dieser Text all denen gewidmet, die überall auf der Welt mit feuchten Händen an der Freiwurflinie stehen, wenn das Spiel in den letzten Sekunden auf der Kippe steht.

Dieser Text ist für all die, die sich nicht rechtzeitig auf die Bank in Sicherheit gebracht haben, sich nicht freiwillig auswechseln ließen, als das Spiel sich seinem – aus der Zuschauersicht – Höhepunkt näherte, als noch drei Sekunden zu spielen waren, als der Gegner mit einem Punkt hinten lag und als nur ein Foul und zwei Freiwürfe – aus der Sicht des Gegners – dem Spiel eine letzte Wendung hätten geben können.

 „Hier hast du den Ball. Du wirst sowieso nicht treffen, du verdammter Loser!“

Dieser Text ist für die, die wissen, dass der Gegner bewusst genau sie gefoult hat, als der Ball wie eine heiße Kartoffel weitergepasst werden wollte. Ein Gegner, der um ihr voraussichtliches Scheitern wusste. Der, nachdem er sie gefoult hat, schnell eine Auszeit genommen hat, um ihnen Zeit zu lassen, ihre ganze hoffnungslose Situation zu verstehen oder, wie der Amerikaner sagt: sie zu „icen“. Ja, für alle, die vereist werden sollen, für alle, die die aufmunternden Worte und Klapse der Mitspieler während der schrecklich langen Auszeit als hilflose Geste zu deuten wissen, die sich auf dem Weg zur Linie der Schwere ihrer Beine bewusst werden, die sich fragen, ob es damals Robert Scott auf dem Weg zum Südpol ähnlich kalt war, die meinen, beim Schiedsrichter, wenn er den Ball überreicht, einen verschmitzten Gesichtsausdruck zu bemerken, eine Miene, die sich das Lachen nur auf Grund offizieller Funktion verkneifen kann, und die, aber gerade deswegen, sagt: „Hier hast du den Ball. Du wirst sowieso nicht treffen, du verdammter Loser!“

Für all jene, die sich fragen, wie man diesen wahnsinnig kleinen Korb, der so irre weit weg ist, treffen soll, die sämtliche Techniken zur Verinnerlichung der Freiwurfsituation durch haben – zwei Mal dribbeln, Ball aufnehmen, durchatmen, noch einmal dribbeln, Ball zur Brust, Arm strecken, Hand abknicken usw. –, die gehört haben, dass Rick Barry aus der NBA mit äußerst unkonventioneller Technik – den Ball aus Kniehöhe mit beiden Händen gen Korb gezwirbelt – eine satte Prozentzahl von der Linie hatte.

Für all jene, die sicher sind, im Augenblick der Ballübergabe durch den Schiedsrichter das höchste Maß an Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeit zu besitzen, die sich fragen, ob sie Kraft dieser vielleicht nicht doch den Beruf des Schriftstellers als einen möglichen in Erwägung ziehen sollten, die sich den Nihilisten ach so verwandt fühlen, die die Komplexität der Hallen-Architektur ruck, zuck erkennen und mit dem interessanten Spiel der Farben an den Wänden und der Decke vergleichen, die an lange einsame Spaziergänge und an die Wärme von gemeinsamen Lagerfeuerabenden denken, an alle, die die Zeit vor dem Wurf wie die letzten Sekunden einer Todesbeschreibung erfahren, gedehnt wie unter der Guillotine, all denen, die plötzlich meinen, die Atmosphäre der Halle aus einer Kafka-Geschichte zu kennen, die in den Gesichtern der Mitspieler Qualen zu erkennen meinen und die beim verschämten Blick auf die Tribüne entweder eine einzige schreiende Masse oder erbarmungsloses Schweigen bemerken, die beim Absuchen dieser, auf der Suche nach der Liebsten, nur den Rücken dieser finden, ein Rücken, der unter seinem Sitzplatz etwas zu suchen scheint.

Und letztendlich ist dieser Text auch denen gewidmet, die keinen Bezug zum Freiwurf haben, die aber das Elfmeterschießen im Fußball als eine brutale Zumutung empfinden, die das Verhalten der Spieler auf dem Weg zum Punkt zu deuten wissen: „Da, hast du das gesehen, der trifft nicht!“; all die, die zumindest in diesem einen Punkt Affinität zu Uli Hoeneß verspüren, der damals gegen die Tschechen den Ball in den Belgrader Himmel jagte und somit als einer von uns bezeichnet werden kann. Euch, euch allen, ist dieser Text gewidmet. Und wenn ihr mal wieder da steht, wo ihr eigentlich nicht sein wollt, dann denkt daran, irgendwann zahlt sich (fast) alles aus.