Gespenster, nichts als echte Gespenster

Berlin gilt als Ort, wo alle politischen Befürchtungen schon architektonisch kenntlich werden. Man sieht hier Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg, gelegentlich sogar noch Ruinen. Auch sonst geizt die Stadt nicht mit Symbolen restaurativer Zeiten. Ironisch nur, dass gerade die Aufgeklärten sich Anfang der Siebzigerjahre auf dem Sperrmüll wilhelminischer Interieurs angenommen haben. Eine Kritik an der Angstlust von Michael Rutschky

Vor allem, wenn er aus den Vereinigten Staaten kommt, kann man dem jungen Zeitungsmann damit imponieren: Dass man ihn zu einer der einschlägigen Berliner Häuserwände führt, aus denen unregelmäßig faustgroße Löcher herausgesprengt sind. „Wissen Sie, was das ist?“, fragt man und freut sich über die Fassungslosigkeit, „das war die Rote Armee. Die Häuserkämpfe im Frühjahr 45, Maschinengewehre, Kanonen, Granatsplitter.“ Selten bleibt der junge amerikanische Journalist unberührt: So nahe war er dem Zweiten Weltkrieg und Stalins Roter Armee noch nie. Einmal habe ich's sogar erlebt, dass der Proband die Geschichte glatt bezweifelte. Freilich wollte ihm keine einleuchtende Ersatzerklärung für das Löcherwerk einfallen. Pilzbefall konnte es unmöglich sein.

Hier beginnt nun gleich das nostalgische Maunzen. Als ich es Anfang der Neunziger einmal hören ließ: Im Zuge der durchgreifenden Stadtrenovierung verschwänden diese Geschichtsspuren – da bemerkte der einheimische Schriftsteller Morshäuser postmodern-zynisch: Ach was. Der Senat werde solche zerschossenen Häuserwände für denkmalgeschützt erklären; wir müssten uns doch beweisen, dass wir unserer Geschichte inne sind. Interessante Spezialistenkonferenzen im Hilton, wie man solche Schusslöcher am besten konserviert ...

Dies war lange Jahre während der Mauerzeit einer der Distinktionsgewinne, den der Bewohner Westberlins dem Bewohner Westdeutschlands voraushatte. Während Kassel und Landshut, Kiel und Saarbrücken, Gütersloh und Stuttgart den „Wiederaufbau“-Idealen der Fünfziger unterworfen und als das „Westdeuschland“ gestaltet wurden, aus dem unsereins nach Westberlin entkam, blieb in deutlichem Unterschied dazu die Geschichtskatastrophe in Westberlin ebenso wie in Ostberlin sichtbar, präsent, ja, man konnte die Mauer, die Teilung selbst dahingehend verstehen, dass sie aus der ganzen Stadt ein riesiges Mahmal mache.

Es werden hier ein paar Unterscheidungen fällig: Geschichte ist etwas anderes als Erinnerung, und Erinnerungen sind etwas anderes als Gespenster.

Nicht nur, dass dank zerschossener Häuserwände die Geschichte in Berlin sichtbar blieb, es fanden sich natürlich auch Einwohner, denen der Krieg und das Kriegsende deutlich in Erinnerung sind. Sogar ich, 1945 zwei Jahre alt, meine über ein paar dunkle Bilder von Bombenalarm und Luftschutzkeller zu verfügen – bei der Renovierung meines Mietshauses neulich wurde die Metalltür, durch die man in einen solchen gelangte, entfernt und der Zugang spurlos vermauert.

Auch Erinnerungen an die zynisch-sarkastisch so genannte „Reichskristallnacht“ waren bei den Westberlinern noch reichlich vorhanden, an das Verschwinden jüdischer Freunde, Mitschüler, und der Jungmensch der Sechziger und Siebziger konnte leidenschaftlich mit Eltern, Tanten und Onkels streiten, was sie seinerzeit wussten von der großen Mordmaschine und warum niemand sie sabotierte, ein richtiges Kriegsthema zwischen den Generationen.

Während also in diesem Punkt Geschichte als Erinnerung präsent war, begann ein anderer Teil der Geschichte die Erinnerung zu verlassen. Wiewohl in Denkmälern und Bausubstanz und Straßennamen unübersehbar vorhanden, bildete der Wilhelminismus, die „Gründerzeit“, keinen lebendigen Teil des Stadtgedächtnisses mehr. Die Kanonen des französischen Heeres, 1870/71 erbeutet und in Ringen um die Siegessäule montiert, obendrauf die vergoldete Victorine: Das war ohne jede Präsenz, Zeugnis einer (leicht lächerlichen) Vergangenheit, zu der jede lebendige Verbindung fehlte (obwohl ich einen Vater hatte, der mit 21 freiwillig für Kaiser und Vaterland in den Krieg zog: Die lebendige Erinnerung meines Vaters konnte das wilhelminische Berlin nicht evozieren). Dass den Großen Stern, in dessen Mitte (dank Albert Speer) die Siegessäule steht, am Rande Denkmäler von Moltke, Roon und – versetzt – Bismarck zieren, bleibt den Automobilisten, die jeden Tag reichlich diesen Kreisverkehr durchfahren, so unsichtbar, dass in ihnen keine Frage aufkommt, wer zum Teufel Roon und Moltke waren.

Wie tief der Wilhelminismus schon im Westberlin der Sechziger mortifiziert war (obwohl noch lebendige Erinnerungen an ihn existierten), wurde in den Siebzigern deutlich, als er plötzlich in Mode kam: In der Gestalt des Sperrmülls, der in riesigen Gebirgen die Trottoirs füllte (weil die Stadtreinigung eine entsprechende Aktion startete) und aus dem sich Studenten und andere Jungbürger mit den surrealistisch verzwirbelten Etageren, Sesseln, Schränken, Tischen versorgten, die dann lange die entsprechenden Haushalte Westberlins prägten. Obwohl die Inneneinrichtung danach aussah, als wollten wir Kaiser Wilhelm wiederhaben, wurde in den einschlägigen Kneipen das Verhängnis der RAF und die Perspektive des Linksradikalismus diskutiert.

Was an Geschichte in Erinnerung ist oder gar lebensmächtig, das lässt sich aus Bauformen und Interieurs, Denkmälern und Straßennamen unmöglich ableiten. Der berüchtigte Abgrund zwischen Zeichen und Bezeichnetem klaffte auch zwischen den gedrechselten Beinchen des Kneipentischs und den revolutionären Gesprächen, die daran geführt wurden.

Mit dem Abriss der Mauer, dem Wegfall der DDR, der Wiedervereinigung der Stadt, dem Parlamentsbeschluss für Berlin als Hauptstadt ist in ganz unterschiedlichen Kadern eine merkwürdige Idee an die Macht gekommen: Dass in der Hauptstadt der Berliner Republik die Geschichte nicht bloß selektiv, sondern restlos präsent sei. Der Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung scheint aufgehoben; Gestalten, Themen, Wünsche, Befürchtungen und Gedanken wechseln haltlos hinüber und herüber.

Das sind die Gespenster.

In jeder Debatte über jedes Thema mischen sie sich ein. Wir müssen in der Behrenstraße, nahe dem Brandenburger Tor, das Holocaust-Mahnmal bauen – sagen die einen –, damit die Berliner Republik ihre Erinnerungsfähigkeit beweist: Die Schande der Verbrechen unter Hitler braucht eine monumentale Präsenz. Ist der favorisierte Entwurf – sagen die anderen –, dies weite Feld mit den Betonstelen, weit genug entfernt vom Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald und den anderen wilhelminischen Scheußlichkeiten? Eigentlich handelt es sich doch bloß um deren dekonstruktivistische Variante ...

Wenn wir das Stadtschloss wieder aufbauen, verfügen Berlin und die Republik über eine neue Mitte, sagen die einen, und die Normalität kehrt zurück. Eben dies gilt es zu verhindern, sagen die anderen; das rekonstruierte Stadtschloss wäre ein Monument der Verleugnung: Die Berliner Republik darf keinesfalls glauben, sie beruhe auf der selbstverständlichen Kontinuität der nationalen Geschichte.

Dass das Stadtschloss und ebenso das Holocaust-Mahnmal, eigentlich hochsymbolische Gebilde, die Geschichte mit der Kraft der Erinnerung präsent machen können, diese Überzeugung teilen die beiden Fraktionen. Das ist der Gespensterglaube. Er spricht einem nachgebauten Königsschloss die Kraft zu, das Zentrum der Republik zu bilden, vollkommen unabhängig von allen praktischen Zwecken, denen das nachgebaute Königsschloss dienen könnte; solche Erörterungen praktischer Zwecke erscheinen den Gespenstergläubigen sekundär. – Ebenso magisch soll das Holocaust-Mahnmal mit den Naziverbrechern verfahren.

Eine seltsame Kehre hat dieser Gespensterglaube genommen, seit Gerhard Schröder Bundeskanzler ist, der Umzug der Regierung in die Hauptstadt Berlin also unter einem ganz anderen politischen Vorzeichen stattfindet als die Wiedervereinigung.

Es sind vor allem die versprengten Kader der radikalen Linken, die den Ausgestaltungen dieses Gespensterglaubens nachgehen. Der Grundgedanke ist, dass der wilhelminische Imperialismus und der Größenwahn des Dritten Reiches unter der neuen Regierung noch leichter geschichtsmächtig werden als unter der alten: Weil sich die Grünen und die SPD frei wissen von diesen Gespenstern der Vergangenheit, können sich die Gespenster des Bundeskanzler Schröders ebenso wie des Außenministers Fischer um so leichter bemächtigen.

„Ausgerechnet die engen Beziehungen, in denen Schröders Amtsvorgänger in seiner Partei wie im Privatleben zu den Tätern stand“, so ein Agitator, „hatten ihn zu einer gewissen Vorsicht beim Umgang mit den Opfern verpflichtet. Helmut Kohl hatte sich in Bitburg vor den Gräbern von SS-Männern verneigt und die Bonner Republik der europäischen Zivilisation näher gebracht. Gerhard Schröder hat keine NS-Verwandten ...“ Und diese Abwesenheit ist es, die den Gespenstern die Machtübernahme ermöglicht.

Im Wesentlichen sind es also Drittes Reich und Wilhelminismus, aus denen die Gespenster stammen, Zeiten, an die unter den Einheimischen noch lebendige Erinnerung existiert, auch wenn sie langsam verblasst und ausstirbt. Dass frühere Epochen der deutschen Geschichte für die Berliner Republik gespensterfähig werden, ist aber nicht auszuschließen.

So deutet sich in anderen Kadern der Wille an, den Vormärz, die Burschenschaften und die sogenannten Freiheitskriege gegen Napoleon wiederzuverkörpern (der die Hegemonie der westlichen Welt, die heute die USA ausüben, antizipierte). Vielleicht kommt bald die Kleinstaaterei wieder. Oder der Alte Fritz.

Grundlage des Gespensterglaubens ist, dass wir vollständig von den Bildern und Gestalten der Geschichte umstellt sind: Himmler in nächster Nähe, ebenso Roon. Wer also den Gespensterglauben ablegen möchte, muss sich ordentlich umschauen: Wo was ist – wo nichts.

Michael Rutschky, 56, Autor u. a. der taz und des Merkur, lebt als Essayist in seiner Heimatstadt Berlin. Sein Text ist ein Kapitel seines Aufsatzes „Drehort Berlin“ aus dem Kursbuch, Nr. 137, das am Montag unter dem Titel „Berlin. Metropole“ (Rowohlt Berlin, 200 S., 18 Mark) erscheint. Darin sind weitere Beiträge zu finden, u. a. von Monika Maron, Klaus Hartung, Hanns Zischler, Jens Reich, Wolf Jobst Siedler und Karl Schlögel