■ Sonnenfinsternis, Parteien, Apokalypse usw.
: Sofis Welt ist schön

Morgen um halb eins ist die Welt wieder in Ordnung. Sie wird ein planetarisches Wunder demonstrieren, sie wird sich in ihrer ganzen fantastischen Vollkommenheit zeigen, während wir, bebrillt oder unbebrillt, in Millionenstärke auf den Straßen, Dachgärten, Hochhausterrassen und Fernsehtürmen dieser Republik versammelt, ihr dabei zusehen werden. Nach diesem ekstatischen Massenerlebnis werden Tausende von Menschen ihre Sonnenbrillen wegwerfen, ihren geplanten Selbstmord verschieben und sich wieder ins Leben schmeißen. Sofi, deine Welt ist schön!

Auch die Wunden, die unsere rot-grüne Bundesregierung riss, wird die heilige Sofi wieder heilen. Der Streit um die 630-Mark-Jobs, um die Scheinselbstständigen, um die Vermögenssteuer ist vergessen, wir kennen keine Parteien mehr, wir kennen nur noch Sofi. Die Angestellten von Großraumbüros werden ihrer Firma aufs Dach steigen, die Schulen, Kindergärten, Universitäten werden sich entleeren, und ihr lebendiger Inhalt wird sich auf allen verfügbaren Türmen und Aussichtsplattformen tummeln. Großkonzerne haben bereits angekündigt, ihre Fließbänder eine halbe Stunde lang anzuhalten, kleinere Firmen werden sich das Bundesverdienstkreuz anzuheften versuchen, indem sie im Sinne von Ursula Engelen-Kefer „ein Signal für gutes Betriebsklima setzen“ und ihren MitarbeiterInnen die Teilnahme an der aktiven kosmischen Gruppengymnastik ohne Lohnabzug erlauben. Die sich immer noch auf den Sozialismus berufende chinesische Regierung hat gerade eine Sekte verboten, deren Mitglieder die Energie des Weltenraums mit entsprechenden gemeinsamen Übungen zu inhalieren versuchten. Der kapitalistische Westen ist wieder mal viel geschickter und demonstriert, wie man die unversöhnlichen Klassengegensätze durch kollektives Falun-Gongen auf die Sonnenscheibe eben doch miteinander versöhnen kann. Und zwar so nachhaltig und inniglich, dass selbst so ein professioneller Versöhnerstattspalter wie Bundespräsident Johannes Rau daneben wie blasse abgenagte Käserinde wirkt.

An was werden wir uns in drei, vier Jahren erinnern, wenn wir an den Sommer 1999 zurückdenken? Nein, nicht an den Kanzler Schröder, der wird längst Geschichte sein, sondern an die Sonnenfinsternis und an die Rechtschreibreform. Nichts hat uns nachhaltiger zu einem Volk von Gleichen geformt wie diese beiden Ereignisse: Kollektiv mussten wir die reformierte Blindenschrift erlernen. Ute Scheub