Die Masken der reinen Empfindung

Bar jedes geschlechterspezifischen Blicks: Die Deutsche Guggenheim zeigt mit „Amazonen der Avantgarde“ eine Hommage an sechs Künstlerinnen der russischen Avantgarde aus den zwanziger Jahren  ■   Von Henrike Thomson

Eine Ausstellung über russische Avantgarde aus den 20er Jahren ist für die deutsche Guggenheim-Dependance ein Heimspiel in doppelter Hinsicht: Das Museum verdankt seinen Ruf ganz wesentlich Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ sowie Stücken von Kandinsky, Natlaja Gontscharowa und anderen russischen Modernisten. Außerdem fand, wie der Katalog dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Rolf Breuer, als Vorwort in den Mund legt, 1922 nur wenige Schritte von den heutigen Galerieräumen in Berlin die „Erste Russische Kunstausstellung“ statt. Dort waren damals die übrigen fünf Künstlerinnen versammelt, die die Deutsche Guggenheim unter dem Titel „Amazonen der Avantgarde“ neben Gontscharowa präsentiert: Alexandra Exter, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa.

Mit so viel Historie im Nacken ist die Ausstellung ungeheuer mythenkonform ausgefallen. Sie konzentriert sich auf die Hochphase der Künstlerinnen 1911 bis 1923. Ein Blick in die Biographien genügt, um zu sehen, daß das Oeuvre bis auf das der früh verstorbenen Popowa und Rosanowa dort aber nicht endet. Sie setzten ihre Arbeit im Pariser Exil oder unter dem Diktat des Sozialistischen Realismus fort. Solche späten Werkphasen werden bei männlichen Kollegen wie Alexander Rodtschenko (Stepanowas Ehemann) und El Lissitzky inzwischen aufgearbeitet. Entsprechende Ausstellungen waren im New Yorker Museum of Modern Art und im Sprengel-Museum in Hannover zu sehen.

In Berlin aber heißt es zum Beispiel nur in dürren Worten zu Exter und Gontscharowa: „In Westeuropa verliefen die Karrieren beider Frauen nach einiger Zeit im Sande.“ Warum? Immerhin waren sie nicht schlechter im Geschäft als die Pariser und Münchner Malerkreise. Kein Ausstellungsstück dokumentiert das immerhin Jahrzehnte lange kreative „Nachspiel“. Auch bei Stepanowa und Udalzowa fehlt jedes Beispiel für späte Bilder, mit denen sie sich an offiziellen Gruppenschauen in der Sowjetunion beteiligten. Das wäre ein guter Ansatz zur kritischen Konturierung gewesen – wenn es darum ginge, mehr als eine weitere Hommage an die klassische Moderne zu zeigen, die zur Londoner Royal Academy sowie in die Guggenheim-Häuser von Venedig und New York weiterreist.

Vielleicht handelt es sich aber auch um die verspätetete Ankunft einer feministischen affirmative action. Immerhin versucht der Katalog einen geschlechterspezifischen Blick anzuregen. Er beschäftigt sich aufschlußreich mit dem Phänomen, warum gerade in der russischen Avantgarde Künstlerinnen so präsent waren. Die entsprechenden Motive fehlen allerdings in den ausgestellten Bildern völlig. Sie suchen nicht die Auseinandersetzung mit Androgynie und erotischer Performativität, wie sie einige Jahre zuvor etwa in den Bildern Michail Wrubels sichtbar war. Eher schon spielte die Geschlechteridentität dieser Künstlerinnen in Mode, Accessoires und Theaterkostümen, die sie zusätzlich entwarfen, eine Rolle. Davon gibt es aber auch keine Beispiele, abgesehen von einem Sportanzug nach Entwürfen von Stepanowa, der im Museumsshop zum Verkauf steht.

Am Ende scheint sich der geschlechterspezifische Blick auch wieder als Konstruktion zu entlarven – so restlos haben sich die Frauen die „männliche“ universalistische Formsprache von Konstruktivismus, Kubo-Futurismus und Suprematimus angeeignet. Aber braucht man überhaupt solche Vorwände, um die Bilder erneut zu zeigen? Erstmals kamen mit dieser Ausstellung die über regionale russische Museen verstreuten Bilder im Westen wieder zusammen. Jeder Malerin ist eine eigene Sektion gewidmet, die ihren spezifischen Charakter treffend herausarbeitet. Bei Gontscharowa etwa dominieren ruhige Farbvolumen. Ein Bild wie „Bauern ernten Trauben“ (1912) überführt die eckige Figur der russischen Volkskunst direkt in die kubistische Auflösung. Exters Strich ist feiner, die Farben sind reiner und transparenter, ihre Kompositionen lösen sich mit Vorliebe in einen utopisch hellen Raum auf.

Popowa und Udalzowa hatten zusammen bei Le Fauconnier in Paris studiert. Aber während Udalzowa mit etwas zu symmetrischen Schulbeispielen der Abstraktion vertreten ist, wagte ihre Freundin einen kühnen Schritt wie Tatlin in seinen „Eckbildern“: In Popowas „Plastischem Gemälde“ von 1915 stülpt sich der kubistische Raum reliefartig nach außen.

Von Stepanowa sticht am meisten ihr Selbstporträt von 1920 mit der Maskenhaftigkeit eines Pierrots hervor. Die Künstlichkeit dieser modernistischen Chiffre der Ambivalenz ist zusätzlich betont, indem die Gesichtszüge ganz in dekorative Grundformen aufgelöst sind. Stepanowa verleiht ihnen eine eigentümliche lineare Dynamik, wie sie vielleicht der zeitgenössische Dichter Wiktor Chlebnikow für die Zeichen des Alphabets im Sinn hatte. Die radikalste künstlerische Entwicklung vollzog offenbar Rosanowa, die mit Chlebnikows futuristischem Kollegen Alexej Krutschonitsch liiert war. Dreizehn Bilder führen vom figürlichen „Porträt einer Dame in Rosa“ (1911) zum „Grünen Streifen“ (1917). Die „Suprematie der reinen Empfindung“, wie Malewitsch es nannte, ist darin flirrend sensibel eingefangen.

Bis 17. 10., tgl. 11–20 Uhr, Deutsche Guggenheim, Unter den Linden. Ab 27. 8. zusätzliche Filmreihe im Arsenal.