Im Schatten des Friedens

Das kleine A und O eines Konflikts: Am Starnberger See kamen jetzt Schriftsteller aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder miteinander ins Gespräch  ■   Von Ruth Spietschka

„Und vergeßt nicht, Mutter Teresa kommt aus meinem Land!“ So muß ein albanischer Lyriker aus dem Kosovo gelegentlich Westeuropäern und Amerikanern erklären, woher er kommt und was das für ein Land ist, das im Abkommen von Dayton fast übersehen wurde. Ali Podrimja nennt es Kosova und legt die Betonung auf die zweite Silbe – Kosovo ist nämlich der serbische Name seines Landes, das Miloševic und seine Anhänger für das ihre halten.

Zusammen mit acht anderen Autoren war Podrimja an den Starnberger See gekommen, um in der Villa Waldberta, dem Künstlerhaus der Stadt München, zwei Tage lang über das „Denken, Philosophieren, Schreiben ... im Schatten eines Krieges“ zu sprechen. Serben und Kosovo-Albaner, Bosnier und Kroaten, die heute allesamt im Exil leben, sei es in Berlin oder Köln, Wien oder Budapest. Die meisten von ihnen hatten sich in den vergangenen Wochen in Zeitungsartikeln zum Krieg im Kosovo geäußert. Jetzt saßen sie zum ersten Mal gemeinsam an einem Tisch. Und manchmal kamen sie dabei auch tatsächlich miteinander ins Gespräch. Das war tags zuvor auf dem Podium des Münchener Goethe-Forums noch anders gewesen; dort waren nur Monologe zu hören, Fragen aus dem Publikum hatten sich die Verantwortlichen des Goethe-Instituts – aus Sorge vor unkontrollierten Aggressionen? – gleich ganz verbeten.

Daß es in der jetzigen Situation darauf ankommt, vorhandene Spannungen zumindest nicht zu vertiefen, darüber herrschte allerdings auch zwischen den Autoren am Starnberger See schnell Einigkeit. Doch wie das geschehen kann, darüber waren die Ansichten geteilt. Der junge Lyriker Beqä Cufaj, als Deutschlandkorrespondent einer albanischen Zeitung derzeit in Bonn, sieht das Problem vor allem in den serbischen Intellektuellen, die der Konfrontation mit sich selbst und der eigenen Rolle im letzten Jahrzehnt auswichen. Immer wieder stand diese Gruppe im Raum, obwohl sie wohlweislich nicht eingeladen worden war und nicht mit am Tisch in der Villa Waldberta saß: jene Hardliner, über die man bei uns nur wenig weiß, die aber offenkundig seit mehr als zehn Jahren Miloševic stützten, indem sie zu seiner Machterhaltung die nationalistische Ideologie von der Opfernation der Serben geschaffen und etabliert haben.

Die Vertreter des „anderen Serbien“ beharrten dagegen immer wieder auf der Notwendigkeit zur Differenzierung und Vermeidung von Stereotypen. In seiner Darstellung Serbiens funktioniere CNN – so polemisierte Velekic – nicht anders als das serbische Fernsehen: „Ein unschuldiger oder guter Serbe ist eine Art contradiction in adiecto, ein Widerspruch in sich. Die Serben sind grundsätzlich schuldig: Entweder waren sie für Miloševic, oder sie waren gegen ihn, vermochten ihn aber nicht zu stürzen.“ Daß Differenzierung manchmal einer Sisyphusarbeit gleichkommt, war zu ahnen, als Drinka Gojkovic Teile ihrer Studie über die Rolle und den Sprachgebrauch des serbischen Schriftstellerverbandes in den achtziger Jahren vortrug.

Ob man freilich nach den Greueln der letzten Monate gegenwärtig von albanischer Seite die Geduld erwarten kann, sich auf solche Differenzierungen einzulassen, ist die Frage. Da gab es auf serbischer Seite die vielen, die weggeschaut haben; es geht um die Aufrechnung von Opfern und die wiederholte Frage nach einem jugoslawischen Schindler – immer wieder kommen die Gespräche an Punkte, die einem deutschen Zuhörer bekannt vorkommen. Stimmt es hoffnungsvoll, daß diese Fragen von den südosteuropäischen Autoren schon jetzt gestellt wurden und nicht erst – wie in Deutschland – nach Jahrzehnten des Schweigens?

Das wiederum könnte ein Verdienst der Literatur sein, die in der Villa Waldberta als Katalysator wirkte. Neben dem Genius loci waren es vor allem die Lesungen im kleinen Kreis, die die Autoren ins Gespräch und einander näherbrachten. Daß die Literatur die Wirklichkeit besser versteht als die Wirklichkeit sich selbst, diese Behauptung Drinka Gojkovics hat sich dort bestätigt. Deutlich wurde aber auch, daß die Voraussetzung für eine literarische Verarbeitung in jedem Fall eine wie auch immer geartete Distanz ist. Murat Baltic, der schreibende Amtsrichter aus Sandžak, der in Serbien um sein Leben fürchten muß, seitdem er Anfang April mit der Deutschen Welle über die Bombardements seiner Heimatstadt sprach, machte unmißverständlich klar, daß er „nicht im Schatten eines Krieges gelebt hat, sondern im Schlachthaus selbst“, was kein Ort zum Schreiben oder Philosophieren sei. In der Villa Waldberta hörte man etliche Texte aus den frühen neunziger Jahren, die wie die Gedichte Podrimjas das Geschehen der letzten Monate förmlich vorausgesehen haben. Die auch bei uns bekannte kroatische Journalistin und Schriftstellerin Slavenka Drakulic brauchte acht Jahre, um ihre Gespräche mit vergewaltigten Kroatinnen zu verarbeiten; sie wählte dafür die Form des Romans, um diesen Frauen auch in ihrer Sprachlosigkeit eine Stimme verleihen zu können. Der entschiedenste serbische Kritiker, Bora Cosic, beleuchtete den Surrealismus der Ereignisse mittels surrealistischer Erzähltechniken aus der Distanz eines inzwischen siebenjährigen Exils.

Schließlich hatte man auch einen neutralen Beobachter an den Starnberger See geladen: der Schwede Richard Swartz, ein studierter Slawist und Historiker, der als langjähriger Osteuropakorrespondent von Svenska Dagbladet ein Kenner des Balkans ist und bei uns mit „Room Service. Geschichten aus Europas Nahem Osten“ bekannt wurde. Er übernahm am zweiten Tag die Rolle des Spielverderbers, nachdem sich am Abend zuvor die anderen Autoren einträchtig zum Essen um einen Tisch versammelt hatten und allesamt, auch die Albaner, serbo-kroatisch sprachen. Swartz erinnerte daran, daß sich die Konzepte der serbischen Kritiker Miloševics zum Umbau der serbischen Gesellschaft gerade dadurch auszeichneten, daß auch in ihnen die Albaner nicht vorkommen. Er sprach in diesem Zusammenhang offen von unterschwelligen rassistischen Elementen. Nicht von ungefähr wählte er für seine Lesung Passagen über die „weiße Stadt“. Sie war – wie es im Text heißt – „nicht weiß. Sie war grau und schmutzig. Auf den Tischtüchern ihrer Gasthäuser wurde der Wein zu Blut und das Blut zu schlechtem Wein ...“ Richard Swartz hat in der scheinbaren Idylle der Villa Waldberta dafür gesorgt, daß sich die Wunden, die die Serben den Albanern, aber auch sich selbst geschlagen haben, nicht vorschnell schließen: Nur saubere Wunden können langfristig heilen und verhindern, daß die Krankheit unter der Haut weiterschwelt.

Das benötigt viel Zeit, von der die versammelten Autoren fürchten, daß sie ihnen nicht bleibt. Nach Ansicht von Slavenka Drakulic braucht der Aufbau einer zivilen Gesellschaft auf dem Balkan ein europäisches Rückgrat. Dies ist nicht allein eine ökonomische Frage. Europa muß den Balkan als immanenten Teil seiner selbst begreifen. Oder, um es mit den Worten Ali Podrimjas zu sagen: „Der Balkan ist keine Sackgasse.“