Rindviecher und Reisen sind Luxus

Sie teilen Waschkörbe, Autos und Kindererziehung. In der größten Kommune Deutschlands in Nordhessen leben über siebzig Menschen den Traum vom ländlichen, vom besseren Leben. Dabei gilt Niederkaufungen als Erfolgsgeschichte – wenn auch als eine anstrengende. Linkes Selbstverständnis, gemeinsame Kasse und Konsensprinzip regeln den Alltag. Neugründungen gibt es da kaum. Ein Pfingstkongreß soll nun die müde Kommunenszene beleben. Eine Reportage  ■ von Heide Platen

Gottfried Schubert ist die Liebenswürdigkeit in Person. Der 36jährige gelernte Schreiner muß den Fremdenführer spielen und müht sich um Auskunft: „Ich glaube, wir haben sieben Kühe. Vielleicht.“ Die Rindviecher vor ihm zermalmen das Heu so verträumt zwischen den Kiefern, als könnten sie auch nicht bis sieben zählen.

Volker vom „Arbeitsbereich Vieh“ ist gar nicht liebenswürdig. „Geht da vorne weg“, sagt er, „ihr stört die Tiere beim Fressen.“ Obwohl die allerlei gewöhnt sind. Ganze Busladungen voll neugieriger Besucher zum Beispiel, die wissen wollen, wie es sich so lebt in der größten Kommune der Bundesrepublik.

Im Paradies liegt Niederkaufungen in Nordhessen jedenfalls nicht – am Rande des Kasseler Weichbildes zwischen Baumärkten, Tankstellen, McDonald's, Autobahn und Bundesstraße. Und Friede, Freude, Eierkuchen ist auch nicht immer zwischen den zur Zeit 55 Erwachsenen und 18 Kindern und Jugendlichen. Gottfrieds zehnjähriger Sohn und seine Freunde spielen jedenfalls – „das ist mir so peinlich“ – mit Vorliebe GSG 9 und proben das Einsatzkommando. Tim Königs, „das ist mein Deckname“, stellt sich dafür auf dem hauseigenen Computer gerade einen Waffenschein aus. Das kann linke Eltern schon auf die Palme bringen.

Und als links definiert sich die Kommune Niederkaufungen in ihrer Selbstdarstellung: „Die herrschenden Machtstrukturen – geprägt durch patriarchale Verhaltensmuster, Ausgrenzung von Minderheiten sowie einer Wirtschaftsweise, die die Dritte Welt und die Natur hemmungslos ausbeutet – dienen den Mächtigen zum Machterhalt und vergrößern die Kluft zwischen Arm und Reich.“ Dagegen setzt sie die Waffen der „kommunitären Lebensform“ und der Aufhebung des „Besitzdenkens“.

Die Niederkaufunger haben die Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, seit sie vor zwölf Jahren auf den ehemaligen Bauernhof gezogen sind, erst einmal persönlich überbrückt. Alles Geld fließt in eine gemeinsame Kasse. Wer etwas braucht, nimmt es sich. Ausgaben über zweihundert Mark müssen aufgeschrieben, größere Anschaffungen vom wöchentlichen Plenum abgesegnet werden. Die Einnahmen kommen aus dem Baubetrieb, der Schreinerei, Schlosser- und Lederwerkstatt, Kindertagesstätte, einem Planungsbüro, aus dem Gemüseanbau und dem Tagungshaus. Gesamtumsatz jährlich fast eine Million Mark.

Niederkaufungen gilt in der Kommuneszene als wohlhabend. Der Mittagstisch ist reich gedeckt. Die Vorgänger der sieben Kühe und drei Schweine hängen luftgetrocknet an der Decke des Kellers, die Viehhaltung, zwei Kilometer vom Hof entfernt und bisher nur für den Eigenbedarf, „ist eigentlich ein Luxus“. Die meisten der erwachsenen KommunardInnen sind im Haus und in den eigenen Betrieben beschäftigt, die anderen haben Stellen außerhalb.

Gottfried Schubert schreinert nach neun Jahren Arbeit nicht mehr, sondern hat sich „eine Auszeit“ genehmigt, um „mal was anderes zu machen“: „Das tut mir total gut.“ Nun betreut er Gäste, hilft hier und da und plant den Bau eines Windfangs für die Bienenstöcke. Und vor allem ist er in der Vorbereitungsgruppe für das Pfingstfestival: „Los geht's!“ Niederkaufungen will Initialzündung sein: „Wir wissen schon, daß die Kommunebewegung nicht gerade boomt.“ Die Veranstaltung soll Anregungen und Hilfe für Neugründungen geben: „Selbstbestimmt leben – Gruppen gründen“, hausintern wird sie auch „GrGr“ genannt.

Eine Besuchergruppe besichtigt gerade den Heizungskeller. Zahlen, Daten und Fakten sind nicht die Sache von Gottfried Schubert: „Ich bin nicht gut im Zeigen.“ Wie die ökologische Holzheizung funktioniert, weiß er auch nicht so genau: „Den Hebel da hochheben?“ Nein, lieber nicht: „Ich vermute, daß das auch explodieren kann.“ Nebenan stehen die Vorräte, eingekochte Marmelade massenhaft, Körner und Kräuter. Überall im Haus und den Nebengebäuden hängt ein Duft wie von Frischgebackenem und Sägespänen. Und weil in der Schreinerei wie im selbstbestimmten Leben die nachhaltige Wirtschaftsweise zwar zu den Grundsätzen der Kommune gehört, aber „entweder ganz oder gar nicht“ geht, ist der Freitag „Weißmehltag“. Da werden die Brötchen vom Bäcker geholt.

So variabel ist auch das „Linkssein“ geregelt, das als Aufnahmekriterium gilt. Zugelassen ist so ziemlich alles zwischen links von der Sozialdemokratie und Anarchismus, dazu noch ein wenig Esoterik: Gegen „Sektierertum und Spiritismus“ will man sich aber abgrenzen. „Früher“, erinnert sich Gottfried Schubert, „sind wir schon in die Luft gegangen, wenn irgendwo Tarotkarten rumlagen.“

Die verwinkelten Gänge, Häuser und Hofecken in Niederkaufungen stecken voller Überraschungen. Hier professionelle Renovierung, ein geschickter Umbau, künstlerische Gestaltungen. Und gleich daneben abgebrochene Initiativen, Sperrmüll, in Vergessenheit geratener, potientieller Wertstoff. Kaum Haustiere, nur ein paar Katzen und die Zwerghühner: „Die sind nur zur Zierde, für die Besucher.“ Unter Grabsteinen im Hof ruhen Flecki und Kuschel, die verblichenen Meerschweinchen der Kinder.

„Manches hier“, sagt Gottfried Schubert in der Waschküche beim Anblick der ordentlichen Korbschlange mit den roten Waschzetteln, „ist schon zu sehr organisiert.“ Der Autoplan gehört auch dazu. Das nächste gibt es erst wieder am späten Nachmittag. Auch die Essenszeiten, der Frühstücks- und Abwaschplan sind streng einzuhalten. Und beim Plenum werden Abwesenheit und Unpünktlichkeit mit Gruppenmißfallen vermerkt.

Im Gemeinschaftsraum bullert am Abend der energiesparende Holzofen. Das Plenum ist vorbei. Die wenigen Entscheidungen sind schnell, leise und – auch das ist Prinzip – im Konsens gefallen. Margarete braucht ein neues Schlafsofa, der größte Untermieter, ein Weinhandel, will ausziehen, und die Feuerwehrrechnung für die beiden Löschzüge, die im Dezember ausgerückt waren, um das mittlerweile kommunetraditionelle, aber unangemeldete Weihnachtsfeuer zu löschen, muß bezahlt werden.

Die Kleingruppe Pfingstfestival trifft sich anschließend. Monika Flörchinger sieht angespannt aus. Sie präsentiert drei lange Computerlisten, die ihrer Meinung nach „abgearbeitet“ werden müßten, vom Bestellen des Toilettenwagens bis zur Einladung von Referenten. Monika Flörchinger ist erst seit kurzer Zeit in Niederkaufungen und möchte Kommunardin werden.

Nach einigen „Schnupperwochenenden“ hat sie ihre dreimonatige Probezeit begonnen. Mit am Tisch sitzen ein paar alteingesessene Niederkaufunger. Dabei sind der Psychologe Sven Borstelmann und der Bürochef Uli Barth, beide Gründungsmitglieder. Die Fluktuation in der Kommune ist gering. Auch Gottfried Schubert ist da. Monika Flörchinger akkert und nimmt ernst. Gottfried nicht. Die Gruppe ist eingespielt, kennt die Fähigkeiten der einzelnen und verläßt sich darauf, daß das meiste „noch Zeit hat“. Ehrgeizige Neulinge haben es da nicht leicht. Der gruppendynamische Prozeß endet für die Aspirantin vorerst im Nebel der Nichtentscheidungen. Aber auch damit, daß sie darüber lachen kann.

Am nächsten Morgen arbeitet Monika Flörchinger bei Uli Barth im Büro und resümiert. Sie ist nach Niederkaufungen gekommen, weil sie „anders leben und arbeiten“ will, „nicht entfremdet.“ „Bisher“, sagt sie, „war der Job für mich das Anstrengendste im Leben und nicht die persönlichen Beziehungen“. „Hier“, ahnt sie, „ist es eher umgekehrt.“ Ulrich Barth gibt ihr recht: „Ich sitze manchmal zu lange im Büro. Das ist für mich weniger schwierig, als mit meiner Tochter Hausaufgaben zu machen.“ Das Sichvergraben in die Arbeit ohne Chef, die auch noch Spaß machen kann, ist eines der Probleme in Niederkaufungen. Ein anderes ist die Selbstisolation der Gruppe. Schubert: „Man muß hier nicht weggehen. Man bekommt alles, was man braucht, auch noch gekocht und geputzt.“ Auch die Tatsache, daß bei „so vielen Leuten“ immer jemand da sei, zum Reden, zum Spielen, „ohne daß man sich groß rausbewegen muß“, sei verführerisch. Außenkontakte sollen deshalb bewußt gepflegt werden.

Und wo bleiben die zwischenmenschlichen Konflikte? Die werden, sagt Sven Borstelmann, bestimmt nicht versteckt: „Wir stellen uns eher immer viel zu negativ dar.“ Die Bilanz fängt bei der gemeinsamen Kasse an und endet bei Schilderungen von schlichtem Streit und subtilen Konkurrenz- und Machtspielen. Gottfried Schubert teilt seine Mitbewohner mittlerweile in „zwei Typen“ ein. Er bekomme meist, was er möchte, aber eben „immer mit einem schlechten Gewissen“. Die andere Kategorie seien „die Neidischen“, die zugunsten des Gemeinwohls Verzicht üben und dafür oft nicht einmal gelobt werden: „Was geht, muß jeder für sich herausfinden.“

Die Größe der Kommune mache es möglich, enge Beziehungen zu knüpfen oder aber „wie in Nachbarschaft“ zu leben. Weites Konfliktfeld sei auch immer wieder die Konkurrenz der Arbeitsbereiche, gerade zwischen jenen Betriebsteilen, die „Geld bringen“ und jenen, die sich die Kommune trotz Verlusten gönnt. Und der leidige Urlaub, den manche als überflüssigen Luxus ablehnen, andere aber unbedingt wollen. Wer einzieht, muß sein gesamtes Vermögen mitbringen und bekommt dafür gleich zu Anfang einen Aussteigervertrag, der ihn je nach seinen Bedürfnissen rudimentär absichert.

Abschiede im Krach hat es bislang dennoch selten gegeben. Die meisten, die die Kommune wieder verlassen haben, „die haben wir“, sagt Schubert, „an die Liebe verloren“.

Heide Platen; eine der Veteraninnen der taz, lebt als Reporterin, Korrespondentin für Hessen und Baden-Württemberg sowie als Tierportraitistin in Frankfurt am Main. Sie lebt bekennenderweise längst nicht mehr in kommunardischen Zusammenhängen