„Evakuierung ist notwendig“

■  Nach Ansicht von Walter Kolbow, als Staatssekretär im Verteidigungsministerium für die Flüchtlingshilfe in Makedonien zuständig, muß Deutschland noch mehr Vertriebene aufnehmen

taz: Wie ist derzeit die Lage in den Flüchtlingscamps?

Im Lager in Cegrane in Makedonien (30 km südlich von Tetovo – die Red.), wo die Bundeswehr 32.000 Vertriebene betreut, ist die Lage nach wie vor sehr angespannt. Die Versorgung mit Lebensmitteln reicht zwar aus, aber für eine ausreichende medizinische Betreuung ist ein dritter Medical Point, ein Lazarett, dringend notwendig. Er wird jetzt eingerichtet: 9 Ärzte, 40 Betten und 1 Operationssaal. Unter den Vertriebenen sind immer mehr Verletzte, sei es durch Schußwaffen oder Mißhandlungen, die operiert werden müssen. Insgesamt sind wir mit 17 Ärzten für 32.000 Vertriebene immer noch unterbesetzt.

Sie arbeiten in Makedonien mit verschiedenen Hilfsorganisationen zusammen. Wie klappt das?

Die Zusammenarbeit in Cegrane ist hervorragend. Wir haben zum Beispiel gemeinsam mit dem Technischen Hilfswerk und 22 regierungsunabhängigen Organisationen eine provisorische Abwasserbeseitigung eingerichtet. Die 22 NGOs und die Bundeswehr ergänzen sich. Man akzeptiert sich, ja man schätzt sich. Die Hilfsorganisationen alleine wären durch die Zahl der Vertriebenen überfordert gewesen.

Kooperieren Sie auch mit den örtlichen Behörden?

Den örtlichen Behörden kommt es vor allem darauf an, daß die Infrastruktur ihrer Kommunen verbessert wird. Sie möchten unsere Hilfe für den Aufbau einer Kläranlage und der Müllentsorgung. Mit dem Bau der Kläranlage haben wir schon begonnen.

Rechnen Sie weiterhin mit großen Flüchtlingswellen aus dem Kosovo?

Es ist unklar, ob der Scheitelpunkt der Vertreibungen schon erreicht ist. Wahrscheinlich nicht. Denn noch immer sind 750.000 Menschen im Kosovo auf der Flucht. Miloevic betreibt ein Jojo-Spiel: Mal benutzt er die Kosovo-Albaner als menschliche Schutzschilde für militärische Einrichtungen im Kosovo, dann wieder vertreibt er sie in großen Mengen, um Albanien und Makedonien zu destabilisieren.

Wären die beiden Länder in der Lage, noch weitere Vertriebene aufzunehmen?

Was wollen Sie machen? Wenn die Kosovaren kommen, muß man sie aufnehmen. Die makedonischen Familien, die Vertriebene aufgenommen haben, sind allerdings bereits überbeansprucht. Allein in Makedonien sind 114.900 Kosovaren in Familien untergekommen. Hier kommt es zu großen sozialen Spannungen. Die Familien bekommen zwar Unterstützung von den NGOs, aber zum Teil fehlt ihnen schon das Geld, um ihre Stromrechnung zu bezahlen.

Um die Situation zu entspannen, könnten Nato und EU mehr Flüchtlinge ausfliegen. Ist das notwendig?

Wir müssen bei der Verteilung der Kosovaren dreigleisig fahren: Zum einen müssen sie hier vor Ort unterkommen, also in Makedonien und Albanien. Dann müssen wir aber auch darauf drängen, daß die Anrainerstaaten Bulgarien, Rumänien, die Türkei und Griechenland mehr Vertriebene aufnehmen, und drittens ist die humanitäre Evakuierung ins westliche Ausland notwendig. Bis vergangenen Montag hatten wir etwa 35.000 Menschen ausgeflogen. Bis zum 15. Mai werden wir weitere 11.000 Vertriebene ausfliegen. Wir sind gerade dabei, das Kontingent zusammenzustellen.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Menschen aus, die evakuiert werden?

Vorrang haben Kranke und Verletzte, dann kommen junge Frauen mit Kindern, Ältere und Gebrechliche, junge Männer nur als Väter von kleinen Kindern. Für das deutsche Kontingent wollen wir aus dem schlimmsten Lager, Raduca, etwa 1.000 Vertriebene nach diesen Kriterien auswählen, dann noch 2.000 aus dem Cegrane-Lager und 2.000 komplizierteste Einzelfälle von Familienzusammenführung. Das wäre ein sozialer Querschnitt aller Probleme. Wir nehmen auch noch eine bestimmte Anzahl von Vertriebenen aus den Gastfamilien, um auch auf diese Not aufmerksam zu machen. Die Zusammensetzung des Kontigents wird in Deutschland sehr kritisch betrachtet.

Reicht es, wenn Deutschland erst einmal weitere 5.000 Flüchtlinge aufnimmt?

Wenn die anderen Länder jetzt so viele Kosovo-Albaner aufnehmen, wie sie zugesagt haben, können wir innerhalb von vier Wochen etwa 100.000 Menschen evakuieren. Dann wäre der deutsche Anteil ausreichend. Wir hier vor Ort, die das Elend täglich erleben, plädieren für die Aufnahme der 5.000 Vertriebenen. Momentan haben wir zwar freie Plätze im Lager Cegrane. Wenn jedoch der Flüchtlingsstrom wieder anwächst, muß man überlegen, ob nicht noch mehr Kosovaren aufgenommen werden müssen.

Interview: Jutta Wagemann