Wahrheit kennt keine Diplomatie

Nach dem Bericht der Berliner Staatsanwaltschaft über die Schüsse am israelischen Konsulat ist die Notwehrthese kaum noch zu halten  ■ Aus Berlin Annette Rollmann und Philipp Gessler

Die Notwehrthese ist kaum noch zu halten: Bei der Erstürmung des israelischen Generalkonsulats im Berliner Bezirk Wilmersdorf durch Kurden vor mehr als zwei Wochen erscheint es im Licht der neuesten Ermittlungen immer unwahrscheinlicher, daß die israelischen Sicherheitsbeamten ausschließlich schossen, um ihr Leben zu retten. Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge sagte gestern nach der Sitzung des Rechtsausschusses: „Man könnte sich durchaus vorstellen, gegen die beiden Schützen wegen Totschlags oder sogar Mordes zu ermitteln, wenn sie nicht den Diplomatenstatus hätten.“

Das bindet dem Generalstaatsanwalt, so ließ er durchblicken, die Hände. Gegen die beiden nach Israel ausgeflogenen Sicherheitsleute könnten die deutschen Behörden nicht ermitteln. Sie hätten bei ihrer Vernehmung Diplomatenpässe vorgelegt.

Vier Kurden waren bei der versuchten Besetzung des Konsulats ums Leben gekommen. Darunter war auch die 18jährige Sema Alp, die durch zwei Schüsse von hinten tödlich getroffen worden war. „Ein Projektil“, so heißt es im Bericht des Generalstaatsanwalts, „trat durch den Hinterkopf ein ... Ein zweites Projektil trat unterhalb des linken Schulterblattes in den Körper ... wobei der Schußkanal absteigend verläuft.“

Das sei, so fügte Karge an, nicht die klassische Situation eines in Notwehr abgegeben Schusses. Das legt nahe, daß die 18jährige von hinten getroffen worden war und möglicherweise versuchte, von einer Treppe im Konsulat nach draußen zu fliehen. Die beiden Sicherheitsleute standen höchstwahrscheinlich am obersten Treppenabsatz und schossen hinunter.

Mit Spannung wurde nach zwei Wochen langer und widersprüchlicher Ermittlungen und Gerüchte der vorläufige Bericht der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin über den Tathergang erwartet. „Es ist gut, daß es einen Bericht gibt. Aber es bleiben Fragen, Fragen, Fragen“, sagte die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, nach der Sitzung des Rechtsausschusses. Jetzt fordern die Berliner Grünen einen Untersuchungsausschuß im Abgeordnetenhaus. Ziel des Ausschusses sei insbesondere die Frage, inwieweit die Berliner Polizei „hauptstadtfähig“ sei. Es gehe auch um die politische Verantwortung von Innensenator Eckart Werthebach (CDU) sowie um Versäumnisse der Polizeiführung.

Außerdem bestätigte Karge, daß die Sicherheitsbeamten aus der geöffneten Tür des Konsulats heraus geschossen hätten und sich selbst die angerückten Polizeibeamten, die noch nicht einmal den Garten des Grundstücks betreten hatten, so gefährdet wähnten, daß sie in Deckung gingen. „Es wurde in die Menge geschossen“, sagte er vor Journalisten.

Zudem widerspreche sich die Darstellung der deutschen Polizeibeamten und der israelischen Sicherheitsleute über das Geschehen außerhalb des Generalkonsulats. Während die beiden Israelis vor ihrer Ausreise aus Deutschland ausgesagt hatten, daß sie nach draußen lediglich einen Warnschuß abgegeben hätten, beobachteten die deutschen Polizeibeamten übereinstimmend, daß „mindestens ein Sicherheitsbediensteter des Konsulats ... auf die noch auf der Treppe [zum Eingang des Konsulats; Anm. d. R.] befindlichen und noch weitere anstürmenden Kurden das Feuer“ eröffnet hätten. Die Angaben über die Zahl der Schüsse schwanken zwischen acht und dreißig Schuß.

Justizsenator Erhard Körting hatte während der Sitzung gleichwohl immer wieder darauf hingewiesen, daß die Kurden offensichtlich mit einer „menschenverachtenden Brutalität“ bei ihrem Sturm auf das Generalkonsulat vorgegangen seien.

Zu Beginn hatten die Sicherheitsleute versucht, durch Warnschüsse die Kurden am Eindringen in das Gebäude zu hindern. Doch seien, wie ein Polizist später verwundert berichtet habe, die Kurden dadurch „komischerweise überhaupt nicht abgeschreckt“ worden. Das Vorgehen der rund 150 mit „Holzstangen und Ästen sowie mit sogenannten Erdnägeln (Stahlstangen)“ bewaffneten Kurden habe zu einer fast „bürgerkriegsähnlichen Situation geführt.

Ob der tatsächliche Tathergang vor allem innerhalb des Konsulats je aufgeklärt werden kann, bezweifelte Karge. Bislang hätten sich auch kurdische Augenzeugen nicht geäußert, da sie selbst des Landfriedensbruchs und zum Teil auch des Hausfriedensbruchs beschuldigt würden. Doch hatte Karge während der Pressekonferenz seinen Willen bekräftigt, so weit wie es ihm möglich ist, die Vorfälle aufzudecken. Der Oberstaatsanwalt fand das rechte Abschlußwort: „Die Wahrheit kennt keine Diplomatie.“