Zeigt her eure Spiegel

Ist Kultur ein Sicherungssystem, hat auch der Kapitalismus eine Kultur. Eine der Beobachtung und Interpretation. Die Aufklärung entläßt ihre Kinder. Überlegungen zum Berliner „Rosenkriege“-Projekt  ■ Von Dirk Baecker

Frank Castorfs und seines Theaters neue Inszenierung der „Rosenkriege“, also der Königsdramen von Shakespeare, führt mitten in das Herz der Kultur des Kapitalismus – wenn dieser Kapitalismus überhaupt eine Kultur hat und wenn diese Kultur ein Herz hat. An beidem zu zweifeln, gibt es Anlaß genug. Lange Zeit war man davon überzeugt, daß „Kultur“ und „Kapitalismus“ den Gegensatz schlechthin bilden. Dem Kapitalismus billigte man im 19. Jahrhundert allenfalls eine „Zivilisation“ zu, mit allem, was dies an oberflächlicher Höflichkeit und strikter Kommerzialisierung (in den Augen der Deutschen) zu implizieren schien. „Kultur“ war dagegen all das, was den Geist, die Seele und das Herz des Menschen vor dieser Zivilisation des Kapitalismus zu schützen in der Lage war, das Streichquartett, das gute Buch, das klassische Theater. In Deutschland vor allem setzte man so inständig auf „Kultur“, daß die Alliierten im Ersten Weltkrieg befürchteten, es mit einer Geheimwaffe zu tun zu haben, und einen tiefliegenden eigenen Mangel ahnten, der sie den Krieg verlieren lassen könnte. So können Begriffe, vor allem unverstandene, um mit Friedrich Kittler zu reden, das Kriegsglück mitentscheiden.

Auf die Idee, daß der Kapitalismus selbst eine Kultur sein könnte, kam man erst in und nach dem Zweiten Weltkrieg – vielleicht, weil die Barbarei der deutschen Kultur jetzt so augenfällig war, daß die bislang bloß „Zivilisierten“ sich guten Gewissens die wirkliche Kultur zuschreiben konnten. Auch jetzt also und immer noch: keine Kultur ohne Emphase, keine Kultur ohne Selbstüberhöhung, keine Kultur ohne eine Dosis „Schrecklichkeit“, die sie nach innen und außen wehrhaft macht.

In Deutschland konnte man das auch jetzt nicht recht glauben. Wenn es einen Zusammenhang zwischen Kultur und Kapitalismus gab, dann konnte der nur einen Namen haben: den der „Kulturindustrie“. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno spitzten auf diese These ihre „Dialektik der Aufklärung“ zu: daß es dem Kapitalismus inzwischen gelungen ist, den bei Kant noch den Subjekten abverlangten Schematismus von Wahrnehmung und Erkenntnis industriell zu produzieren und den Subjekten, sie zu Konsumenten degradierend, anzudienen. Nur so, nur als Verlängerung, ja Verendgültigung der Entfremdung, konnte man sich eine Allianz von Kultur und Kapitalismus vorstellen. Wer jetzt noch „Kultur“ sagte, deckte damit sein Einverständnis mit den „herrschenden“ Verhältnissen auf – und mußte froh sein, wenn ihm die Philosophie eines Ernst Bloch oder die Ästhetik eines Theodor W. Adorno das Argument an die Hand gaben, ihm ginge es, mitten im Herrschenden, dank Mozarts „Idomeneo“ oder Becketts „Endspiel“, um den Vorschein des auch anders Möglichen.

Letztlich waren es die in England initiierten, dann in den USA aufgenommenen Cultural Studies der siebziger und achtziger Jahre, die den Schlußstrich unter diese vornehme Verweigerung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Kultur zogen. Längst waren die Ethnologen und Anthropologen nicht mehr nur in fernen Ländern und auf anderen Kontinenten unterwegs, sondern wurden auf der Suche nach eigentümlichen Formen des Stammesverhaltens in amerikanischen Vorstädten, in der Londoner City, bei Kirchenkonzilen, in Vorstandsetagen, in Gerichtssälen, in Produktionsbetrieben und in Behörden fündig. Und längst war deutlich geworden, daß die Suche nach den authentischen Kulturen der menschlichen Frühgeschichte, nach den edlen Wilden der Rousseauschen Imagination, nichts anderes bebilderte als die eigenen Phantasien und nichts anderes dokumentierte als das eigene kulturelle Unbehagen.

Natürlich ist der Kapitalismus selbst auch eine Kultur. Stück für Stück offenbarte er dieselben Beschränkungen, über die man sich bei Inkas, Eskimos und Beduinen wunderte. Stück für Stück wurde deutlich, daß der Kapitalismus auch nichts anderes ist als eine hochselektive Art und Weise, mit Überraschungen umzugehen, um die Formel der Kulturanthropologin Mary Douglas zu verwenden. Eine Kultur ist eine Form, das Eigene abzudichten und das Fremde draußenzuhalten. Die Pointe dabei ist allerdings, daß das Eigene erst zum Problem wird, wenn man längst mit dem Fremden in Kontakt steht. Erst dann mobilisiert man das Eigene, denn so fremd und doch merkwürdig nah, wie einem der Fremde scheint, will man sich nicht werden.

Aber wie steht es um die zweite These, um die Behauptung, daß diese Kultur des Kapitalismus so etwas wie ein „Herz“ hat und daß die Inszenierung der „Rosenkriege“ mitten hinein in dieses Herz führt? In dem lesenswerten Abriß der Königsdramen, den Jan Kott in seinem Buch „Shakespeare heute“ gibt, bin ich auf die Stelle gestoßen, in der RichardII. im gleichnamigen Stück in der ersten Szene des vierten Akts nach einem Spiegel fragt, um herauszufinden, was an seinem Gesicht Zehntausende im Bannkreis seiner Macht zu halten vermochte. Was this the face / That every day under his household roof / Did keep ten thousand men? Was this the face / That like the sun did make beholders wink? (...) A brittle glory shineth in this face: / As brittle as the glory is the face. Was er sieht, überzeugt ihn nicht und erklärt ihm nichts. Er wirft den Spiegel zu Boden, wo er in hundert Stücke zerbricht: For there it is, crack'd in a hundred shivers. / Mark, silent king, the moral of this sport... (Richard II., IV, 1).

Wenn der Kapitalismus, der sich aus den Trümmern der feudalen Welt erhebt, deren wuchtiges Ende Shakespeare auf die Bühne bringt, eine Kultur hat, ja eine Kultur ist, dann zeigt sie sich darin, daß wir immer wieder den zerbrochenen Spiegel vom Boden aufheben und die Scherben zusammensetzen. Shakespeare setzt den Spiegel wieder zusammen. Er bringt ein Stück auf die Bühne, so wie die Volksbühne es jetzt wieder auf die Bühne bringt. Aber Shakespeare, das ist die grandiose Paradoxie seines Theaters, verweigert sich dem großen neuen Bild, das endlich alles erklärt, das Treiben der Menschen, das Spiel der Macht, die Mechanismen der Gesellschaft. Shakespeare macht etwas anderes. Er ruft den Zuschauern etwas zu, was diese vor lauter Getöse auf der Bühne nicht hören können. Er ruft ihnen zu, in den Worten des großen Kybernetikers Warren McCulloch, „Look at my finger pointing!“: „Schaut nicht auf das, was ich euch zeige; schaut darauf, daß ich euch etwas zeige! Achtet nicht darauf, welches Bild ich euch entwerfe; sondern achtet darauf, daß ich euch ein Bild entwerfe!“

Diese Operation führt in das Herz der Kultur des Kapitalismus. Dieses Herz besteht nicht in dem zerbrochenen Spiegel, wie allzuviel Kulturkritik allzulange immer wieder angenommen hat und die Postmoderne zu ihrem ultimativen Credo erhoben hat. Es besteht darin, daß wir den Spiegel immer wieder aufheben und ihn aufs neue zusammensetzen – aber nicht, um darin etwas zu sehen (wir wissen, daß wir nichts darin sehen), sondern um zu schauen, ob wir ihn noch zusammensetzen können. Wir konstruieren inmitten des Dekonstruierten – das ist das Herz der Kultur des Kapitalismus. Shakespeare entwarf eine grandiose Konstruktion – und zeigte uns, daß er es konnte.

Und wenn wir heute Shakespeare inszenieren, dann bewundern wir die Konstruktion – und messen unsere eigene Konstruktion, die Inszenierung, an dieser Vorgabe. Wir setzen den zerbrochenen Spiegel zusammen und zeigen uns beglückt, wie uns das gelingt. Wir gehen ins Theater und schauen uns die Rosenkriege an, weil wir gehört haben, daß da schon wieder jemand den Spiegel zusammengesetzt hat und daß man, je nachdem, die Fugen überhaupt nicht sieht oder daß sie, die Fugen, wunderbar ins Bild passen. Was zeigt das Bild? Wir wissen es nicht. Es zeigt uns etwas, woraus wir Schlüsse auf eine Wirklichkeit ziehen können, aber nicht müssen.

Die entscheidende Geste dieser Kultur ist das Zeigen auf etwas. Und die entscheidenden, zunächst für die Religion, dann für die Kunst, schließlich für Politik, Familie, Wirtschaft und Wissenschaft „verheerenden Folgen“ (Luhmann) bestehen darin, daß diese Geste in die Gesellschaft Kontingenz einführt, den Eigenwert der Moderne, und die Gesellschaft und ihre sozialen Systeme auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zwingt. Die moderne Kultur bewirkt, daß nichts mehr ist, was es ist, und jeder beobachtet wird, wie er tut, was er tut. Nun wird dies gemeinhin nicht unter dem Stichwort „Kultur des Kapitalismus“, sondern unter dem Stichwort „Aufklärung“ verbucht. Daß nichts mehr ist, was es ist, ist eine Einsicht, die aller Befreiung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant) vorausgeht. Worin besteht Aufklärung, wenn nicht darin, sich aus dem Muff der Gewohnheit und der Selbstverständlichkeit zu befreien und sich nicht mehr zum Opfer der Entscheidungen anderer, sondern zum Herrn der eigenen Entscheidungen zu machen? Worauf sonst zielt die Aufklärung? Aber dann sind in der Tat Aufklärung, Emanzipation, Kultur und Kapitalismus strukturell und ideologisch dasselbe.

Hat der Kapitalismus nicht viel zu viel mit Industrialisierung und Ausbeutung im Namen der Kapitalverwertung zu tun, um mit Aufklärung und Emanzipation in einen Topf geworfen werden zu können? Wenn man sich genauer anschaut, daß Kapitalverwertung Kapitalisierung voraussetzt und Kapitalisierung die Geste des Zeigens, Markierens, Vergleichens, De- und Rekontextuierens – dann sieht man, daß Kapitalismus ohne die intellektuelle Tendenz der Aufklärung gar nicht möglich wäre beziehungsweise Aufklärung und Kapitalismus beide Kinder ein und derselben konstitutiven Geste der Moderne sind. So harmlos kann etwas sein. Und so harmlos muß es sein, um so weitreichende Folgen haben zu konnen. Denn man muß diese Geste beherrschen, ohne sie unbedingt kennen zu müssen. Ja, je schlechter man sie kennt, je latenter sie also bleibt, desto weniger kann sie selbst kontingent gesetzt werden: desto sicherer also kann sie ihre Fatalität entfalten.

Die Geste des Zeigens kapitalisiert. Die Geste der Interpretation verwertet das Kapital. Die Beobachtung der Beobachter ist nichts anderes als Kapital auf der Suche nach Profitchancen. Umgekehrt also macht die Sache Sinn: Wir haben es nicht mit einem universellen Entfremdungszusammenhang zu tun. Sondern dieses „Kapital auf der Suche nach Profitchancen“ ist der Modus der gesellschaftlichen Koordination, den die Moderne zu ihrem eigenen gemacht hat, seit ihr alle externen Referenzen auf die Götter, das Schicksal und die Natur abhanden gekommen sind.