Requiem für eine Leiche

Was kommt nach dem Tod des Sozialismus? Der britische New-Labour-Soziologe Anthony Giddens sucht den „dritten Weg“ zu einer radikalen, neuen Mitte  ■ Von Klaus Taschwer

Wenige Tage vor dem rot-grünen Wahlsieg in Deutschland fand in New York ein Gipfeltreffen der besonderen Art statt. Am 21. September vergangenen Jahres debattierten in New York die Staatschefs Bill Clinton, Tony Blair und Romano Prodi gemeinsam mit Intellektuellen über die Zukunft der Sozialdemokratie. Das Thema war der von Blair propagierte „dritte Weg“, für den der New-Labour-Führer auch gleich einen seiner Vordenker mitgebracht hat: Anthony Giddens, seit 1997 Direktor der angesehenen London School of Economics.

Der Soziologe hatte geistigen Proviant für den „dritten Weg“ mitgebracht: Rechtzeitig vor dem Treffen an der New York University war sein neuestes Buch, „The Third Way. For A Renewal Of Social Democracy“, erschienen. Das transatlantische Treffen der Mitte-links-Praktiker und -Theoretiker stand allerdings unter einem etwas unglücklichen Stern namens Monica Lewinsky. Die Enthüllungen über ihre Affäre mit Bill Clinton hatten eben wieder einen neuen Höhepunkt erreicht, was die politischen Kommentatoren zu einigen flotten Scherzen über den dritten Weg ermunterte: So wurde gemutmaßt, ob damit ein neuer Kompromiß zwischen Treue und Untreue gemeint sei oder gar eine bestimmte sexuelle Praktik.

Aber auch seriösere Beobachter gaben sich wenig wohlwollend. So etwa meinte der Historiker Tony Judd in der New York Times, daß hier mit großen Worten kleine Gefühle legitimiert würden und sprach von „Opportunismus mit menschlichem Antlitz“. Der Economist warf Blair und vor allem seinem Guru Giddens vor, daß der dritte Weg immer das sei, was New Labour gerade mache. Tatsächlich scheint die Theorie der realpolitischen Praxis nachzuhinken, denn erst nachdem New Labour im Mai 1997 triumphal siegte, begann sich Giddens mit Geoff Mulgan, dem Direktor von Blairs Thinktank „Demos“, und Ian Hargreaves, dem Herausgeber des einflußreichen New Statesman, regelmäßig zu treffen, um mit ihnen über die Erneuerung der Sozialdemokratie zu diskutieren.

Das Resultat liegt seit kurzem auch auf deutsch in Buchform vor und heißt „Der dritte Weg“. In der ersten Hälfte umreißt der Blair- Berater die veränderten Rahmenbedingungen heutiger sozialdemokratischer Politik. In der zweiten folgen seine mehr oder weniger konkreten Vorschläge für die neue Politik. Und wie schon in seinem vorletzten Buch, „Jenseits von Links und Rechts“, ist der Diagnostiker Giddens überzeugender als der Therapeut. Das Buch selbst indes beginnt – wie sonst nur Krimis – mit einer Leiche: Spätestens seit 1989 ist für Giddens der Sozialismus endgültig tot, spektakulär gescheitert an den eigenen Ansprüchen, eine Gesellschaft mit größerem Reichtum und einer gerechteren Verteilung dieser Reichtümer zu schaffen als der Kapitalismus. Was blieb, waren die traditionelle Sozialdemokratie und der Neoliberalismus als die beiden zentralen Politikoptionen – die Giddens idealtypisch gegenüberstellt.

Was folgt, ist ein lesenswerter Schnellkursus in politischer Ideengeschichte, der mit einer Rekapitulation jener Debatten endet, die in den letzten Jahren um die Neuausrichtung der Sozialdemokratie geführt wurden und einige Verwirrungen gestiftet haben: „Meine Partei nennt sich liberal, ist aber im Grunde eindeutig sozialistisch. Bei diesen Europäern ist es genau umgekehrt.“ Mit diesen Worten brachte ein von Giddens zitierter kolumbianischer Delegierter bei der Versammlung der Sozialistischen Internationale im Jahr 1989 die rezenten Verwechslungen von rinks und lechts auf den Punkt.

Als Erklärung für diese neue Unübersichtlichkeit werden „fünf Dilemmata“ nachgereicht, womit die Problemfelder Globalisierung, die Individualisierung, Links und Rechts, politisches Handeln und ökologische Notwendigkeiten gemeint sind. Es werden die wichtigsten Thesen zeitgenössischer Gesellschaftstheoriker – und insbesondere jene des deutschen Soziologen Ulrich Beck – rekapituliert, ehe sich Giddens dem konkreten Programm für eine neue, radikale Mitte widmet, das freilich nur in Umrissen skizziert wird.

Da ist zunächst einmal von der Zivilgesellschaft die Rede und der Bedeutung der Gemeinschaft. Giddens hält diese „grundlegend für die neue Politik, aber nicht als abstrakter Slogan“. Und, weniger abstrakt, an einer anderen: „Die traditionelle Hilfe für Arme muß durch gemeinschaftsorientierte Maßnahmen ersetzt werden, die eine Beteiligung aller ermöglichen und darüber hinaus effektiver sind.“ Eine Belebung der Gemeinschaft könnte schließlich auch der Verbrechensprävention dienen. In Giddens' Heimat mögen solche Vorschläge zweifellos Sinn machen, zumal dort ja Margaret Thatcher dem Land jahrelang egoistischen Neoliberalismus eingetrichtert hat. Ob es hierzulande indes mehr Gemeinschaft braucht, das bezweifeln selbst die meisten Kommunitaristen, also die Anhänger dieser neuen Gemeinschaftslehre aus den USA.

Am deutlichsten sichtbar werden die Markierungen des dritten Wegs bei der vorgeschlagenen Reform des Wohlfahrtsstaates: „Investition in menschliches Kapital statt direkter Zahlungen“ – das ist das leitende Prinzip für den geforderten Umbau des Sozialstaats in einen „Sozialinvestitionsstaat“, dessen Ausgaben zwar nicht reduziert, aber doch neu verteilt werden sollen. Solche „Aufwertungen des Humankapitals“ bedeuten für den Soziologen vor allem eines: Bessere (Aus-)Bildung ein Leben lang. Daß ihm Bildung (und Kultur) dabei nur noch als Produktionsfaktor in den Sinn komme, ist von linker Seite – unter anderem von seinem Pariser Kollegen Pierre Bourdieu – kritisch kommentiert worden.

Nach einigen eher unverbindlichen Ausführungen über die Politik im Zeitalter der Globalisierung kommt Giddens am Ende noch einmal auf Tony Blair und New Labour zurück. Vorwürfe werden zitiert, wonach die Partei weiter als medienabhängig gelte und als Vertreter eines „Designer-Sozialismus“. Die Erwiderung des Soziologen fällt zweideutig aus: „Eine Regel für erfolgreiche Werbung ist aber, daß ein Image allein nicht genügt. Es muß etwas Gehaltvolles unter dem Hype sein, sonst sieht die Öffentlichkeit schnell hinter die Fassade.“ Bestimmt das Design also letztendlich doch das Bewußtsein der neuen Linken, deren Programmatik von einem professionellen Gesellschaftstheoretiker nachgereicht werden muß?

Anthony Giddens: „Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie“. Aus dem Englischen von Bettina Engels und Michael Adrian. Edition Zweite Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1998, 180 Seiten, 29,80 DM