Henning Harnisch
: Schütteln und Backen

■ Moments '98: Wie ich einmal Michael Jordan am Strand von Belize begegnete

Wir sind bereit. Der bärtige Barmann mit der Gesichtsfarbe eines Aschenbechers ist es sowieso. Er hält den ganzen Laden zusammen, hat auf halbem Weg zwischen Pension und Meer, das sind ca. 30 Meter, ein Refugium der Ruhe geschaffen. Bestens ausgestattet mit Rum, Eis, Limetten und einem überdimensionalen Fernseher, der von der Palmendecke hängt, hat er, ketterauchend, die Macht – nicht nur über die Fernbedienung. Er besitzt die natürliche Autorität, über einen wüsten Haufen von Touristen, Verzweifelten und Locals zu gebieten. An diesem Abend ein leichtes Spiel für ihn, denn durch die nicht mehr zu überbietende Spannung und Anspannung vor dem sechsten und eventuell letzten Spiel der Finalserie in der NBA zwischen Chicago und Utah strahlt die matt erleuchtete Bar am stockdunklen Karibikstrand von Belize auf die Gäste etwas Sakrales aus.

Hier saßen wir schon zwei Tage zuvor und haben an einem frühen Abend Utah siegen sehen. Aus meiner Sicht eine kleine Katastrophe, liegen doch alle meine Sympathien bei Chicago und seinen charismatischen Protagonisten Jordan, Pippen und Kukoc, sowie ihrem Zen-erleuchteten Trainer Phil Jackson. Außerdem spielt da auch noch der exzentrische Dennis Rodman, der für die erzkonservativen Mormonen aus Salt Lake City eine körperliche und verbale Bedrohung darstellt. Bei allem Respekt vor der mannschaftlichen Leistung Utahs ist die Vorstellung, daß Utah Champion würde, ähnlich unvorstellbar wie die, daß Borussia Fulda mit Bischof Dyba als Präsident Deutscher Fuballmeister wird. Andererseits ist Freundin Genia mittlerweile Anhängerin von Karl Malone geworden.

Die Sympathien an der Theke sind klar verteilt. Außer dem neutralen Hemingwayschen Charakter hinter der Theke und einem Rasta, der sich über jeden Korb freut, gibt es nur eine sehr kleine Utah-Fraktion, die sich rechts und links neben mir befindet. Genia ist zwar mehr Malone- Fraktion, aber der gute Mann rechts von mir, ein fülliger Einheimischer, ist ohne Zweifel großer Fan von Utah. Seine Überzeugung wächst von Rum zu Rum und korrespondiert mit immer heftigeren Bemerkungen in meine Richtung. Das ist mir recht, solange die wüsten Äußerungen mit der Dramatik auf dem Spielfeld harmonieren. Als er aber die langgezogenen Ausrufe „Deniiiiiiise“ des glückseligen und unparteiischen Rasta Richtung Rodman dankbar aufnimmt, um eine generelle Haßtirade gegen Homosexuelle loszulassen, finden wir das nicht mehr spaßig. Auch weil die Mormonen kurz vor Schluß in Führung liegen. Nur durch einen Ballgewinn von Michael Jordan, sowie die beschwichtigenden Gesten unseres Barkeepers werde ich beruhigt. Der hat uns bereits die Angst vor unserem Pensionsnachbarn, den man in einem Gangsterfilm als überzeichneten Charakter abgelehnt hätte, durch seine Mitteilung genommen, es handle sich um den Präsidenten des nationalen Fernsehsenders von Belize. Leichte Skepsis blieb.

Das Match hat jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Acht Sekunden sind noch zu spielen, Chicago liegt mit einem Punkt hinten. Die Strandbar ist komplett auf den Beinen und starrt auf Michael Jordan. Der täuscht seinen Gegenspieler an der Freiwurflinie, zieht den Ball von rechts nach links, springt hoch, der Ball verläßt am höchsten Punkt seine Hand, fliegt wie in Zeitlupe zum Korb und füllt weich das Netz aus. Eine kleine Ewigkeit verfolgt der ausgestreckte Arm mit abgeknickter Hand den Flug des Balles und bleibt wie erstarrt in dieser Position, nachdem der Ball schon lange sein Ziel erreicht hat. Die Bar ist am Toben, auch ich bin es, mittlerweile aber links von Genia positioniert. Die Mormonen haben noch einen letzten Wurf, den die tragische Figur John Stockton aber nicht trifft. Entscheidender ist dieser letzte Wurf von Jordan und sein Verharren danach, das ihn zur zukünftigen Modellierung freigibt.

Hätte ich in dem Augenblick denken können, wäre mir wahrscheinlich Norman Mailer in den Sinn gekommen, der Schriftsteller für die gewissen sportgeschichtlichen Momente. So wußte ich nur, daß ich am Strand von Placencia einen historischen Augenblick miterlebt hatte. Mein schwer angeschlagener Ex- Nachbar akzeptierte die Niederlage ausgesprochen würdevoll – den ausgestreckten Arm und die abgeknickte Hand in meine Richtung gezeigt. Seit jenem denkwürdigen Basketballmatch wurde in der NBA nicht mehr gespielt.

Ich täusche an diesem letzten Tag im Jahr meinen imaginären Gegenspieler, ziehe den Ball von rechts nach links, steige hoch, strecke, nachdem der Ball meine Hand verlassen hat, meinen Arm aus und knicke meine Hand ab. Mit einer tiefen Verbeugung vor Michael Jordan.