"Auch die Ehe birgt ein Risiko"

■ Ideologisches Tagewerk in Zeiten von Tony Blair: Wie gehen soziale Regeln und die Zukunft der Globalisierung zusammen? Ein Gespräch mit dem britischen Soziologen Anthony Giddens

taz: Sie gelten als einer der wichtigsten Vordenker der neuen britischen Sozialdemokratie, die radikal mit bestimmten linken Traditionen gebrochen hat. Ihr bislang letztes, auf deutsch erschienenes Buch trägt den Titel „Jenseits von Links und Rechts“ – ist das die politische Zukunft?

Anthony Giddens: Ich denke, daß die europäische Sozialdemokratie in den meisten ihrer Formen überholt ist und sich transformieren muß. In Großbritannien gab es unter Margaret Thatcher eine Periode des Neoliberalismus. Diese Erfahrung zwang die britische Linke, ihre Positionen zu überdenken und zu überlegen, wie man auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren soll. Ich denke, daß es eine ganze Menge von interessanten Ideen gibt, die in Großbritannien in den vergangenen Jahren entstanden sind. Oder denken Sie an das niederländische Experiment. Wir erleben gerade eine sehr spannende Phase der Politik, aber wir brauchen viel mehr Debatten über all diese Dinge.

Beunruhigt es Sie, daß Jörg Haider den Titel seines letzten Buches „Befreite Zukunft jenseits von links und rechts“ augenscheinlich bei Ihnen abgekupfert hat?

(lacht) Soviel ich weiß, gab es in den letzten Jahren vier Bücher mit dem Titel „Jenseits von links und rechts“. Für mich ist die Linke nach wie vor wichtig: die linken Anliegen der Förderung von sozialer Gleichheit, von emanzipatorischer Politik, d.h. die Herstellung einer Gesellschaft mit einem anständigen Maß an sozialer Gerechtigkeit. Diese Perspektiven verschwinden nicht, sondern sind immer noch zentral. Aber es gibt eine ganze Reihe neuer Themen und Problemfelder, die nicht einfach dem Rechts-links-Schema entsprechen.

Was zum Beispiel?

Nun, da sind zum einen die Antworten auf die Globalisierung und die Verteidigung einer kosmopolitischen Haltung gegenüber dem Fundamentalismus. Oder der Umgang mit den Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Wandels oder zum Teil auch die Veränderungen in den Familienstrukturen und des emotionalen Lebens. Bei vielen dieser Dinge ist die Links-rechts-Unterscheidung hinfällig geworden. Eine linke Orientierung ist wichtig, weil man ein Konzept der sozialen Gerechtigkeit braucht. Aber auch die politische Mitte ist wichtig, weil sie eine innovativere Kraft sein kann, als sie es in der Vergangenheit war – vor allem aufgrund des relativen Verschwindens der Klassenpolitik. Die Klassenzugehörigkeit determiniert nicht mehr in jenem Maß die politische Ausrichtung, wie sie es noch vor wenigen Jahrzehnten getan hat. Die Linke hat sich vom Sozialismus distanziert, und deshalb spielt der Sozialismus auch keine zentrale Rolle mehr im Programm.

Würden Sie also Ihrem liberalen Kollegen Ralf Dahrendorf zustimmen, der bereits vor Jahren das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts angekündigt hat?

Ich denke, daß das davon abhängt, wohin man statt dessen will. Die Sozialdemokratie war aufs engste mit dem Sozialismus verwoben und mit keynesianischer Wirtschaftspolitik. All das ist meiner Meinung nach gestorben. Die Sozialdemokratie hat auch an einem geraden Weg in die Zukunft, an den linearen Fortschritt geglaubt. Auch das ist gestorben. Wir leben heute in einer globalen kapitalistischen Gesellschaft ohne Alternativen, die schwerwiegende ökologische Probleme aufwirft – und es geht darum, inwieweit sich die Sozialdemokratie diesen neuen Rahmenbedingungen anpassen kann. Es kommt also darauf an, ob man von einer Erneuerung der Sozialdemokratie spricht oder von einer ganz anderen Politik.

Aber macht das dann noch einen Unterschied?

Nein, nicht wirklich. Das stimmt. Denn wenn die Sozialdemokraten ihre politischen Ideen in ausreichendem Maße verändern, dann ist das in der Tat eine völlig neue Art der politischen Orientierung. Und das ist es auch, was der von mir vorgeschlagene „dritte Weg“ meint: eine radikale Revision der Sozialdemokratie, die aber zumindest die Ziele von Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit nicht aufgibt. Im Grunde hat sich an meinen Auffassungen nicht viel geändert.

Sind Sie sich da sicher? Meinen Sie wirklich, daß zum Beispiel Ihre Einschätzungen des Wohlfahrtsstaats in den vergangenen Jahren dieselben geblieben sind?

Es gibt niemanden, der seine Ansichten über den Wohlfahrtsstaat in den vergangenen Jahren nicht geändert hätte. Der Unterschied ist, daß die Rechte – zumindest in den USA und Großbritannien – so weit geht, den Wohlfahrtsstaat für die meisten Probleme verantwortlich zu machen, die westliche Gesellschaften haben. Diese Sicht scheint mir nur teilweise gerechtfertigt – wenn überhaupt.

In welcher Richtung soll sich der Wohlfahrtsstaat Ihrer Meinung nach verändern?

Das Problem scheint mir, wie man den Wohlfahrtsstaat im Sinne einer neuen Balance von Risiko und Sicherheit reformieren kann. Auf der einen Seite muß man die Leute beschützen und Sicherheit schaffen für die Schwachen der Gesellschaft. Aber auf der anderen Seite braucht man auch Leute, die Risiko auf sich nehmen – um am Weltmarkt bestehen zu können. Man braucht eine dynamische Wirtschaft, das ist angesichts der globalen Märkte wichtiger denn je. Kleinere Länder wie Österreich haben es da vielleicht ein bißchen leichter, aber größere Länder brauchen einfach mehr wirtschaftliche Dynamik. Deshalb braucht man auch dynamische Arbeitskräfte, was zum Beispiel für den einzelnen häufigere Berufswechsel bedeutet als früher. Mein Vorschlag lautet also, daß man den Wohlfahrtsstaat in Richtung eines sozialen Investitionsstaats verschieben sollte.

Was hat man darunter zu verstehen?

Das Ziel von Tony Blair ist es, mehr in Humankapital zu investieren. Das heißt: Leute zu beschäftigen – so gut es eben geht – und sie auszubilden, damit sie etwas aus ihren Leben machen können. Und um möglichst wenige Leute zu haben, die auf Unterstützungen angewiesen sind – einerseits aus wirtschaftlichen Gründen, andererseits aber natürlich vor allem auch deshalb, weil diese Leute aufgrund ihrer Lage ja auch kein besonders zufriedenes und glückliches Leben führen.

Eine zentrale Rolle im Programm von New Labour von Tony Blair nimmt Bildung ein. Warum ist sie so wichtig?

Bildung ist eine grundlegende Sache in einer Gesellschaft, die vor allem auf Wissen und Information beruht. Es gibt im Moment keine Regierung weltweit, die dem Bildungssektor nicht zentrales Augenmerk schenkt. Zumindest keine Regierung, die ich kenne. Und das betrifft auch den schulischen Bildungsbereich. Hier geht es darum, das Niveau der Schulen zu erhöhen, ohne deshalb mehr Geld auszugeben. Man muß festhalten, daß der Bildungsbereich allgemeinere gesellschaftliche Bedingungen und Ungleichheiten widerspiegelt. Das Bildungssystem ist natürlich ein Ort, um aufzusteigen. Aber es ist auch der Ort, um Leute „auszusortieren“, ja zum Teil sogar zu disqualifizieren. Und außerdem gibt es immer Schwierigkeiten, so etwas wie gleichberechtigten Zugang zur Bildung zu erreichen. Was Blair in Großbritannien versucht, ist, sich spezifischer Regionen anzunehmen und auf lokaler Ebene und in bestimmten Schlüsselbereichen Veränderungen durchzusetzen. Aber das System insgesamt zu verändern ist eine längerfristige Angelegenheit – und das britische Bildungssystem hat diese Veränderungen dringend nötig.

Diesem Konzept entspricht es wohl auch, daß der Risiko-Begriff für Sie durchaus seine guten Seiten hat und Sie die Globalisierung für eine eher positive Herausforderung halten?

Es sind in den vergangenen Jahren einige Bücher verfaßt worden, in denen steht, was die Globalisierung doch für eine furchtbare Sache sei. Denken Sie nur an das Buch „Die Globalisierungsfalle“ oder „Der Terror der Ökonomie“ in Frankreich. In den USA findet man das Gegenteil. Die Wahrheit liegt wie immer dazwischen. Ich denke, daß die Globalisierung tatsächlich das Phänomen der Gegenwart ist: Es hat also keinen Sinn zu sagen, daß Globalsierung furchtbar sei. Globalisierung ist einfach da, und sie bestimmt die Art und Weise, in der wir leben. Punkt. Und wir müssen sie zu unserem Vorteil machen.

Und wie ist das mit dem Risiko, das bei Ihnen ebenfalls vergleichsweise positiv besetzt ist?

Risiko scheint mir die Bedingung wirtschaftlicher Dynamik und der globalen kapitalistischen Ökonomie zu sein. Risiko hat natürlich zwei Seiten, und eine davon will man aus gutem Grund minimieren. Aber wenn man sich bloß für Sicherheit entscheidet, dann ist man heute verloren – auch, was das eigene Leben anbetrifft. Das ist heute vielen Veränderungen ausgesetzt, nicht zuletzt auch, was die Partnerschaft oder die Ehe anbetrifft. Das währt nun nicht mehr ein Leben lang; entsprechend ist Risiko auch hier zu einem wichtigen Bestandteil geworden.

Ihr deutscher Kollege Ulrich Beck, der den Begriff „Risikogesellschaft“ erfunden hat, ist diesbezüglich aber sehr viel skeptischer.

Ulrich Beck hat Risiko tatsächlich immer als etwas Katastrophisches gesehen, das man vermeiden muß. Ich dagegen meine, daß Risiko etwas Komplexeres ist. Risiko bedeutet auch Abenteuer, und niemand will sein Leben ohne Abenteuer leben. Deshalb steigen die Menschen auf Berge oder fahren schnelle Autos. Oder gehen neue sexuelle Beziehungen ein. Interview: Klaus Taschwer