Größtes wogendes Kollektiv aller Zeiten

■ Die EuropaChorAkademie unter Michael Gielen führte in der Glocke Mahlers gigantomanische 8. Sinfonie auf

Die EuropaChorAkademie des Joshard Daus hat die Früchte ihrer Arbeit diesmal Michael Gielen und seinem SWR – Sinfonieorchester zur Verfügung gestellt, damit Gustav Mahlers alle Dimensionen sprengendes Riesenwerk, seine 8. Sinfonie, die „Sinfonie der Tausend“, in angemessener Quant- und Qualität mal außerhalb von festlichen Eröffnungen, Feierstunden, Jahrestagen u.ä. erklingen kann. Dem Musikfreund wurde ob dieser Ankündigung doch ein wenig bang. Mahlers Achte nämlich stellt seine ästhetischen Grundsätze doch auf eine harte Probe.

Gustav der Große, der Zeitgenosse der Zukunft, dessen Sinfonien in ihrer höchst kunstfertigen Zerrissenheit den bürgerlichen Konzertsaal der Moderne geöffnet haben, hatte sich aufgemacht, ein Summum Opus, das übelmeinende Kritik ehrfurchtsvoll zum Verstummen bringt, zu schaffen. „Seht her, es ist gelungen“, jubeln dort ganze Völkerscharen, in Kinder- Frauen- und Männerchöre gefaßt, vom größten Orchesterapparat aller Zeiten durch die zentralen Kulturgüter des christlichen Abendlandes getrieben: Pfingst-Hymnus und die Faust II Schlußszene. „Schöpfer Geist“ und „Ewig Weibliches“ zerren mächtig am Hörer. Da konnte eigentlich nur rückwärtsgewandte, verkleisternde Repräsentationskultur herauskommen. Daß Thomas Mann, einer der illustren Gäste der Uraufführung, gerade zu diesem Anlaß erkannte, daß sich in Mahler der ernsteste und heiligste künstlerische Wille seiner Zeit verkörperte, macht die Sache auch nicht besser. Einem Richard Strauß hätte man eine derartige Konzeption tödlich übelgenommen.

Daß nun gerade Michael Gielen, in dem sich der ernsteste und heiligste künstlerische Wille der Musik unserer Zeit verkörpert, sich der Aufgabe stellte, das Mahlersche Sternen- und Planetenkreisen – erstaunlicherweise nicht von der DASA gesponsert – im eher heilig-nüchternen Ambiente unserer Glocke zum Klingen zu bringt, macht denn doch neugierig. Immerhin hatte er die Eröffnung des aufgeplusterten Kulturtempels „Frankfurter Oper“ vor fast zwei Jahrzehnten mit einer straffen, Gedöhns meidenden Interpretation dieses Werks erträglich gemacht.

Dem Berichterstatter war am Freitag abend eine kritische Beurteilung dieses Spektakels nicht möglich. Geschwächt durch Fieberschauer, die Ohren dem Krankheitsbild entsprechend verstopft, war er eingangs völlig durch das Bemühen ausgefüllt, seinen Hustenreiz zu unterdrücken. Die Haupt- und Staatsaktion des 1. Satzes – den Schöpfer Geist beschwörend – rauschte an ihm vorüber. Er sah nur ein gewaltiges Wogen dieses großen schwarzweißen Kollektivs, das vom großen Steuermann Gielen behutsam aber präzise durch alle Fährnisse gelenkt wurde. Erst der lautstark schneidende Einsatz der auf der Empore plazierten Blechbläser, den Abschluß des 1. Satzes markierend, löste den Pfropf im Ohr und machte aus dem Zuschauer einen Zuhörer. Jetzt war der Weg frei für das einschmeichelnde Glückseligkeit verheißende Singen, das sich aus Goethes dunkler, zerklüfteter Felsschlucht löste. Wundersame Melodien – vielleicht dem musikträchtigen mährisch-böhmischen Umfeld der mahlerschen Kindheit entsprungen, zum Mitsingen einladend und doch neuartig-fremd entfalteten einen unwiderstehlichen Sog. Wehrlos sah sich der Hörer zum monumentalen Abschluß der durchaus umstrittenen Weisheit ausgesetzt, wonach das ewig Weibliche uns hinanziehe und er bekräftigte dies auch noch mit einem vorsichtig, aber entschieden gekrächzten Bravo.

Gielens Dirigat machte diese schwer verdauliche Kost genießbar. Weihe verschwand hinter Ernst, Sentimentalität hinter Gelassenheit und Ruhe. (Seine eigene Einspielung vor 17 Jahren war ein Viertelstündchen kürzer.) Die Temporelationen waren stimmig, der melodische Fluß entwickelte sich natürlich. Klangwirkungen wollten nicht schlicht überwältigen; sie blieben begreif- und nachvollziehbar. Man wußte, warum man sich in diesem Klanggewoge und Melodientaumel verlor.

Vielleicht war der gut vorbereitete und schön singende Chor denn doch etwas zu klein um manches noch zauberhafter (nichts ist so überwältigend, als wenn 600 Kehlen schweigen) oder gewaltiger ertönen zu lassen. Dies ermöglichte aber, die achtköpfige Solistenschar klanglich und räumlich so zu integrieren, daß sie harmonischer aber immer individualisierbarer Teil des Klanggeschehens wurde (besonders überzeugend in der Gielenschen Konzeption aufgehend: Thomas Moser und Margaret Jane Wray).

Das war gelungen. Dies spürte auch das in diesem Herbst mit Mahler verwöhnte Bremer Publikum und dankte mit Freudenschreien und –pfiffen erstaunlich ausdauernd. Mario Nitsche