Chronik einer absehbaren Katastrophe

■ Mit der neuen Nationalbibliothek hinterließ François Mitterrand ein teures Erbstück mit unzumutbaren Arbeitsplätzen, das kurz nach der Eröffnung schon renovierungsbedürftig ist

Die vier wuchtigen Türme aus Glas, Beton und Metall sollten den Pariser Osten beleben. Sie sollten ein Gegengewicht zu Louvre, Orsay-Museum und den anderen Kulturtempeln im Zentrum sein. Sie sollten Frankreich die größte und modernste Bibliothek Europas bescheren. Und sie sollten, wie so viele französische Monumentalbauten der späten 80er und frühen 90er Jahre, den Namen ihres Auftraggebers verewigen. Seit dem 8. Oktober ist die neue Nationalbibliothek „François Mitterrand“ eröffnet. Die letzten der elf Millionen Bände sind aus der ehrwürdigen alten Bibliothek mit den stoffbezogenen grünen Leselampen in der rue Richelieu in den Stadtteil Tolbiac transportiert worden. Die 14 unterirdischen Säle für 2.000 LeserInnen sind bereit.

Dennoch funktioniert fast nichts in der teuersten Bibliothek der Welt, die acht Milliarden Franc (ca 2,4 Milliarden Mark) Baukosten verschlungen hat und jährlich mit etwa einer Milliarde Franc Unterhaltskosten zehn Prozent des Budgets des französischen Kulturministeriums beanspruchen wird. Der Ärger begann bereits wenige Stunden nach der Eröffnung mit Pannen in dem eigens von „IBM“ und „Cap-Geminis“ entworfenen Computersystem (Kosten: eine Milliarde Franc). Selbst bei kleinen Anfragen verweigerte es die Auskunft, spuckte Fehlinformationen aus und zwang die BenutzerInnen, ihre Bildschirme immer wieder an- und auszuknipsen. Am Gemäuer zeigten sich undichte Stellen. An den 12 Meter hohen unterirdischen Wänden, die unterhalb des Seine-Niveaus liegen, rann eine bräunliche Flüssigkeit hinab. Der orangerote Teppichboden mußte zurückgerollt werden, um kleine Auffanggräben im Betonboden zu schaffen.

Die 2.000 Angestellten der Bibliothek stellten entsetzt fest, daß der Architekt Dominique Perrault, ein Star der Mitterrand- Jahre, offenbar nicht an sie gedacht hat. Während Perrault die Bücher in die 78 Meter hohen Glastürme schickte, wo Lichtschutz und Klimatisierung viel Energie und Geld verschlingen, verdammte er die Menschen unter die Erde, wo nur ganz wenige den Blick auf den baumbestandenen, verschlossenen Innenhof im Zentrum der Anlage haben. Viele müssen zudem kilometerlange unterirdische Wege zwischen den je 300 Meter voneinander entfernten Türmen zurücklegen. Andere verbringen ihre Arbeitszeit isoliert in zellenähnlichen Betonräumen. Es mangelt an Gemeinschaftseinrichtungen und an gesundheitsverträglichen Lichtverhältnissen. Am 21. Oktober trat die bereits vom Streß gezeichnete Belegschaft in den Streik. Zwar hat das Kulturministerium inzwischen Zugeständnisse gemacht – so soll die Bibliothek vorübergehend montags geschlossen bleiben und die neue Computertechnik von Einführungskursen begleitet werden – doch standen die LeserInnen, die seit dem Umuzug auch noch für die Bibliotheksnutzung zahlen müssen, gestern immer noch vor verschlossenen Türen.

Was sich in dem letzten großen französischen Prunkbau dieses Jahrhunderts abspielt, ist die Chronik einer absehbaren Katastrophe. Bereits Anfang der 90er Jahre warnten Experten vor den unzumutbaren Arbeitsbedingungen. Doch Bauherr Mitterrand interessierte sich bei seinen Baustellenbegehungen vor allem für den „Geist des Ortes“, und Architekt Perrault war darum bemüht, „klare und ruhige Bedingungen für das Lesen zu schaffen“. Für Mitterrand war die Bibliothek der Abschluß der Stadtumgestaltung, mit der er Paris während seiner 14jährigen Amtszeit beglückte. Zu seinen allesamt gigantischen Projekten gehörte der große Bogen „Grande Arche de la Défense“, der die Verlängerung der Champs-Élysées gen Westen beschreibt, das Wissenschafts- und Musikzentrum in den Schlachthöfen von La Villette, das über die Seine ragende neue Finanzministerium von Bercy und die zum 200. Jahrestag der Revolution erbaute neue Oper an der Bastille.

Inzwischen ist in Paris eine neue Bescheidenheit eingekehrt. Erstens, weil das Geld für neue Prunkbauten fehlt. Und zweitens, weil die vorhandenen Mittel für den Erhalt des Mitterrandschen Architekturerbes nötig sind. Nicht nur für die Nationalbibliothek. Auch die Oper und die „Grande Arche de la Défense“ verschlangen nach ihrer Eröffnung bereits Millionen – in beiden Fällen wegen abstürzender Fassadenteile. Dorothea Hahn