Ein Verlierer verliert seine Angst

„Gut, daß Sie das Spiel gesehen haben“: Trotz der verpatzten Premiere zeigt sich DFB-Teamchef Erich Ribbeck seltsam zufrieden und sieht das 0:1 in der Türkei wohl als Ende der eigenen Orientierungslosigkeit  ■ Aus Bursa Jürgen Gottschlich

Hätte Erich Ribbeck Fanatic gelesen, vielleicht wäre das Schlimmste abzuwenden gewesen. So stellte er erst im nachhinein fest, was er hätte vorher wissen können: „Die Türken haben erst ab der 60. Minute so gespielt, wie wir es von Anfang an erwartet hatten.“ Dabei hatte Fanatic, das größte Sportblatt der Türkei, bereits Tage vor dem Spiel lang und breit die Taktik des türkischen Trainers Mustafa Denizli erläutert: „Wir lassen die Deutschen erst einmal kommen. Wir sparen unsere Kräfte, wir spielen diszipliniert defensiv. Dann ab der 60. Minute legen wir los“.

Genauso kam es. Der Plan klappte geradezu nach dem Bilderbuch. In der 60. Minute wechselte Denizli seinen zweiten Stürmerstar, Oktay Derelioglu von Beșiktaș ein, um Hakan Sükür, der bis dahin fast allein die deutsche Abwehr beschäftigt hatte, zu entlasten. Zehn Minuten später war es dann so weit. Oliver Kahn taumelte durch seinen eigenen Strafraum und hechtete dann einem Kopfball von Hakan so gekonnt hinterher, daß dieser, nachdem er erst den rechten Innenpfosten getroffen hatte, von der Brust des deutschen Keepers ins Netz trudelte. Die „Panzer“, wie die deutsche Mannschaft hier martialisch respektvoll genannt wird, waren geknackt.

Dabei hatten die Deutschen nicht schlecht gespielt. Sie waren schneller als die Türken, konditionell überlegen und hatten jede Menge Chancen – nur ein Tor wollte nicht fallen. „Sie haben das Spiel alle gesehen“, begrüßte Ribbeck nach der Niederlage den deutschen Pressetroß, „Sie kennen das Ergebnis“. „Gut, daß Sie das Spiel gesehen haben, dann wissen Sie auch: Das Ergebnis entspricht nicht dem Spiel.“ „Die deutsche Mannschaft hat gut gespielt und etwas unglücklich verloren.“ Geradezu fröhlich und entspannt stellt Ribbeck fest, daß wir „mit dem kleinen Quentchen Glück, das man halt immer braucht, auch hätten gewinnen können“. Das der Mann über diesen Umstand glücklich war, läßt ermessen, was er befürchtet haben muß.

Man mußte Ribbeck vor dem Spiel gesehen haben, um diese glückliche Niederlage begreifen zu können. Am Freitag stellte er sein Konzept für das Spiel vor großem Publikum vor. Außer deutschen und türkischen Journalisten waren selbst englische und französische Teams vor Ort. Ribbeck eierte herum, wollte nicht anecken, aber auch nichts preisgeben, stotterte wie ein Schuljunge, war offensichtlich fix und fertig. Der Mann hatte Angst. Die Unsicherheit des Trainers war förmlich mit Händen zu greifen. Selbst kleine Koketterien wollten nicht gelingen. Als Ribbeck sagte, wir sind hier ja die Außenseiter, aber es sei ja auch von Vorteil, wenn man unterschätzt würde, statt wie sonst oft überschätzt, sah man ihm an, daß es nichts zu überschätzen gab. Da wirkte es wie eine Karikatur, als der Debutant Carsten Ramelow auf die Frage, ob er Angst vor der angeblichen „Hölle von Bursa“ habe, etwas zu protzig antwortete: „Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben.“ Da ging der Angstvirus längst um bei den Deutschen.

Das Abschlußtraining der deutschen Mannschaft am Freitag abend im Stadion von Bursa geriet für Ribbeck dann vollends zur Groteske. Der Mann stand auf dem Platz, als ob er nicht dazugehörte. Co-Trainer Stielike brüllte herum, und Erich betätigte sich als Balljunge. Selbst wenn er schüchtern versuchte, sich in das Geschehen auf dem Platz einzubringen, hörte ihm niemand zu. Ribbeck schien auf ein Desaster zuzusteuern. Daran gemessen war das 0:1 tatsächlich ein voller Erfolg.

„Ist Ribbeck denn nun besser als Vogts?“, wollten die türkischen Journalisten von ihren deutschen Kollegen wissen. Schulterzucken, Schweigen, etwas verlegenes Grinsen. Was soll man dazu schon sagen. Vor dem Spiel sah Ribbeck aus, als sei seine Zeit schon vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat. Nach dem Spiel gab es für Ribbeck dann Licht am Ende des Tunnels. „Wenn wir so weitermachen wie hier, wenn wir ein bißchen mehr Glück im Abschluß haben, sollten wir es packen.“

Sein türkischer Kollege Mustafa Denizli gab ihm recht. „Die Deutschen haben wesentlich besser gespielt als in Frankreich. Es war für uns ein sehr schweres Spiel.“ Für die Türkei war das Spiel fast so etwas wie eine Staatsaffäre. Ministerpräsident Mesut Yilmaz saß auf der Ehrentribüne, und auf den Rängen wurde gewitzelt, wenn wir gewinnen, kommen wir in die EU. Noch nie konnte eine türkische Mannschaft den großen Bruder aus dem Norden besiegen. Was für ein Fest, nach den politischen Demütigungen des letzten Jahres. Die „Hölle von Bursa“ brach genau zu der Sekunde aus, als der schottische Schiedsrichter das Spiel abpfiff. Es war wie Karneval und Sylvester an einem Tag. Autokorsos zogen die ganze Nacht durch die Stadt, die Leute tanzten auf den Straßen, der Lärm war infernalisch und es gab kein Entrinnen. Das deutsche Team wollte sich das offenbar nicht antun. Obwohl Ribbeck sich artig für die Gastfreundschaft und das faire Spiel bedankte, verließ die Mannschaft fluchtartig die Stadt und fuhr noch in der Nacht zurück nach Istanbul. Die Fahrt über das Marmarameer, hatte Ribbeck erzählt, hätte für alle so entspannend gewirkt.

Deutschland: Kahn – Nowotny – Babbel, Rehmer – Ricken (81. Bode), Ramelow, Jeremies, Beinlich, Heinrich (76. Neuville) – Bierhoff, Kirsten

Zuschauer: 18.800 (ausverkauft)

Tor: 1:0 Hakan Sükür (70.)

Gelb-rote Karte: Tayfun (72.)

Türkei: Rüstü – Ogün (89. Hakan Unsal) – Alpay, Mert, Fatih – Tayfun, Tugay (61. Oktay), Tayfur, Abdullah – Hakan Sükür, Sergen (81. Saffet)