Der beschmutzte Schmelztiegel

Als die israelische Armee vor 25 Jahren im Jom-Kippur-Krieg die ägyptischen Angreifer besiegen konnte, war der Ruf der Streitkräfte noch intakt. Seither verursacht sie immer mehr Skandale. Heute wird die Armee mehr und mehr zum Sammelbecken religiöser Fanatiker  ■ Von Georg Baltissen

Ein Vierteljahrhundert liegt Israels letzter großer Krieg gegen seine arabischen Nachbarn zurück. Der ägyptische Überraschungsangriff am Jom-Kippur-Fest im Oktober 1973 brachte Israels Truppen an den Rand einer Niederlage. Am Ende aber gingen sie wie immer als Sieger vom Feld.

Nur weitere neun Jahre sollte der Nimbus der Streitkräfte Israels als unbesiegbare Truppe anhalten – bis 1982, als die Zva Haganah LeIsrael, so der hebräische Titel der israelischen Verteidigungskräfte, zum ersten Mal in der Geschichte nicht gegen einen überlegenen Feind, sondern gegen einen Underdog, die PLO, ins Feld zog. Der Vergleich vom Kampf Davids gegen Goliath kehrte sich ins Gegenteil um.

Zwar stand die israelische Armee nach drei Tagen vor den Toren Beiruts. Doch den Ostteil der Stadt zu erobern gelang ihr nicht. Die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, die Verteidigungsminister Ariel Scharon nach einer Untersuchung zum Rücktritt zwangen, und der moralische Triumph der erhobenen Hauptes abziehenden PLO-Truppen waren die erste große Demütigung für die israelische Armee – und ein Bruch des nationalen Konsens in Israel: Hunderttausende protestierten in Tel Aviv gegen den Krieg im Libanon.

„Es war der falsche Krieg im falschen Land“, sagt Professor Martin van Crefeld, Militärhistoriker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Letztlich war es die 1987 beginnende Intifada der Palästinenser, die den Mythos der israelischen Armee nachhaltig zerstörte. „Wer die Schwachen bekämpft, wird selber schwach“, sagt van Crefeld. Die Jagd von Soldaten auf steinewerfende Kinder stellte nicht nur ein Imageproblem für die Armee dar. Nicht wenige Soldaten und Reservisten stürzte der ungleiche Kampf in Gewissensnöte, einige lehnten sogar den Dienst in der Armee ab und gingen lieber ins Gefängnis. Die „Reinheit der Waffen“, mit der keine andere Armee sich so brüstete wie die israelische, war befleckt.

Bis dahin genoß die Armee in Israel den Ruf des Integrators und Schmelztiegels der Nation. Seit Anfang der neunziger Jahre steht sie jedoch in der öffentlichen Kritik. Selbstmorde, Manöverunfälle, Korruption, Menschenrechtsverletzungen gegen PalästinenserInnen – kein Fehltritt der Armee bleibt mehr im Dunkeln.

Das hat weitreichende Konsequenzen. Major Simon Rothwell, Verbindungsmann zur ausländischen Presse, räumt ein, daß es bis voriges Jahr immense Motivationsprobleme gegeben hat; junge Rekruten wollten nicht in Kampfeinheiten oder in den besetzten Gebieten Dienst tun. „Das ist aber jetzt vorbei“, meint er. Achtzig Prozent der Eingezogenen des neuen Rekrutenjahrgangs hätten sich freiwillig zu den Eliteeinheiten wie den Fallschirmspringern oder der Golani- und Givatibrigade gemeldet. Nach einer Erhebung der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel ist die Armee unter den Jugendlichen des Landes immer noch die angesehenste staatliche Institution.

Eine kleine Stichprobe unter Soldaten am Jerusalemer Busbahnhof scheint dies zu bestätigen. Der zwanzigjährige Ran ist stolz, ein „Golani“ zu sein. „Nein, ich habe keine Angst, im Libanon zu kämpfen. Wir schützen nur unser Land.“ Und der vierundzwanzigjährige Zeev, der zum zweiten Mal im Libanon Dienst tut, meint: „Gefährlich ist es schon. Aber man denkt nicht ans Sterben.“ Doch während Kampfeinsätze im Südlibanon noch mit soldatischen Tugenden verknüpft werden, gilt der Dienst an einer Straßensperre in den besetzten Gebieten als eher langweiliges Unterfangen.

So kommt es öfters an diesen Checkpoints zu Übergriffen gegen Palästinenser. In Tarkumiya bei Hebron erschossen Soldaten drei Palästinenser, weil sie glaubten, deren Omnibus wollte sie überrollen. Und an einem Kontrollpunkt bei Jerusalem banden Soldaten einen Palästinenser an einen Jeep und zogen ihn querfeldein. Als sie glaubten, er sei tot, ließen sie ihn liegen.

Bei all diesen Skandalen wurden auch frühere Sünden ausgegraben. Erst im vergangenen Jahr kam nach Öffnung der Archive heraus, daß israelische Soldaten im Feldzug von 1956 ägyptische Kriegsgefangene im Sinai abschlachteten, weil sie sie nicht mit Wasser versorgen konnten und sich „der Last“ entledigen wollten. Historiker wie Benny Morris oder Simcha Flapan hatten schon zuvor das tapfere Image der israelischen Armee im Unabhängigkeitskrieg von 1948 in Frage gestellt.

Die Zerstörung von rund vierhundert arabischen Dörfern, die Vertreibung der Einwohner, Vergewaltigung und Mord waren Vorwürfe, mit denen sich die Armee auseinandersetzen mußte. Heraus kam mittlerweile auch das Massaker von Deir Yassin, wo Mitglieder der israelischen Irgun 248 Palästinenser töteten.

Der frühere Generalstabschef Amnon Lipkin-Shahak erklärte noch zu Jahresbeginn, daß die Motivationsprobleme trotz einer höheren Zahl von eingezogenen Wehrpflichtigen nicht behoben seien. Und ein Vater, der seinen Sohn zur ärztlichen Tauglichkeitsprüfung begleitete, berichtete, der untersuchende Arzt habe ungefragt gemeint: „Soll ich Ihren Sohn für untauglich erklären?“ Vor wenigen Jahren wäre dies eine verpönte Frage gewesen. „Jahrelang hat die Armee geleugnet, daß es ein solches Problem gibt“, sagt Historiker van Crefeld, „jetzt geben sie es zu und sagen gleich, daß es vorbei sei.“

Nach Ansicht unabhängiger Quellen werden fast zwanzig Prozent eines Jahrgangs nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen. Vor allen anderen sind es die ultraorthodoxen Juden, die den Wehrdienst verweigern. Aufgrund einer Vereinbarung der National-Religiösen Partei mit dem früheren Ministerpräsidenten David Ben Gurion werden Religionsstudenten seit den fünfziger Jahren vom Militärdienst befreit. Waren es ursprünglich nur wenige Hunderte Jugendliche, so sind es heute Zehntausende. Die sozialdemokratische Arbeitspartei hat deshalb jüngst einen Gesetzentwurf eingebracht, der auch die religiösen Haredim zum Wehrdienst verpflichten soll.

Doch die religiösen Parteien wehren sich vehement gegen ein solches Gesetz. Noch immer müssen Männer prinzipiell drei Jahre Wehrdienst leisten, Frauen zwei. Bislang war es Frauen verwehrt, in Kampfeinheiten zu dienen. Doch aufgrund eines Entscheids des Obersten Gerichtshofes mußte die israelische Luftwaffe im vergangenen Jahr erstmals die Ausbildung von Bomberpilotinnen zulassen. Fälle sexueller Belästigungen und Übergriffe trüben freilich das nach außen hin hochgehaltene Bild von der Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Armee mußte für derlei Delikte sogar eine spezielle Beschwerdestelle einrichten.

Geburtenstarke Jahrgänge und die hohe Zahl von EinwanderInnen haben den Bedarf an Reservisten heute deutlich reduziert. Noch müssen Männer bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahr einen Monat Reservedienst pro Jahr leisten. Doch gerade bei den Reservisten ist die Einsatzbereitschaft drastisch gesunken. Nur rund die Hälfte der Reservisten meldet sich zu diesem Dienst, der eigentlich nationale Pflicht ist. Der andere Teil entzieht sich. Zwar zahlt die Armee eine Entschädigung für den Lohnausfall, doch Wache schieben an Checkpoints ist nicht jedermanns Sache.

Neben den Wehrpflichtigen und Reservisten unterhält der israelische Staat eine professionelle Berufsarmee, deren Zahl von Beobachtern auf dreißig- bis vierzigtausend Mann geschätzt wird. Angehörige dieser Berufsarmee können sich schon mit zweiundvierzig Jahren pensionieren lassen. Dies hat zu einer millionenschweren Belastung des Haushalts geführt, da die Ruhegehälter der Offiziere selten unter fünftausend Mark monatlich liegen.

Während säkulare Juden die Armee aus Karrieregründen heute eher meiden, drängen religiöse Nationalisten ins Militär. „Der messianische Teil der Nationalreligiösen hat sich in der Armee eine starke Machtposition aufgebaut und bereitet ein Regime vor, das auf dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, basiert“, sagt Israel Shahak, emeritierter Chemieprofessor und einer der bekanntesten Menschenrechtler in Israel. Shahak hat keinen Zweifel daran, daß die Zahl der Nationalreligiösen in den Eliteeinheiten und im Offizierscorps zugenommen hat, darunter seien viele Siedler. „Sie kommen aus demselben Lager wie Yigal Amir, der Mörder Rabins, nur mit dem Unterschied, daß sie langfristig vorbereiten, was Amir schnell erreichen wollte.“

Im Sommer 1995 erließen einflußreiche Rabbiner ein religiöses Edikt, nach dem es Soldaten verboten ist, sich aus dem Westjordanland zurückzuziehen und jüdische Siedlungen oder Militärbasen zu räumen – wie noch in den Oslo-Verträgen vorgesehen. Die Rabbiner forderten in einem solchen Fall zur Befehlsverweigerung auf.

Insider meinen, daß damit der Boden für einen jüdischen Untergrund bereitet wurde. Diese Armee in der Armee, so berichteten israelische Medien, ziele darauf ab, Verteidigungsminister Jitzhak Mordechai, der sich für einen weiteren israelischen Teilrückzug ausgesprochen hatte, zum Objekt eines Anschlags zu machen. Bereits in den achtziger Jahren hatten jüdische Untergrundkämpfer Anschläge auf arabische Bürgermeister verübt.

Der Vorsitzende des Jaffe-Zentrums für strategische Studien in Tel Aviv, Zeev Moaz, hält einen Staatsstreich zwar für unwahrscheinlich. Aber erstmals in der Geschichte Israels müsse die militärische und politische Führung eine solche Gefahr überhaupt in Betracht ziehen.