Sinnestäuschung

■ Spannende Querverbindungen: Bach, Ligeti und Afrikanisches in der Liebfrauen-Kirche

Zumindest in der Musik lösen sich Klassengrenzen auf. Vielleicht auch nur die Geschmacksgrenzen. Grünhaarige Punks in der Rathaushalle? Madrigalgesang mysthisch hallend durch den Pier 2? Nein, aber immerhin das Percussionensemble Tsuianaa mit dem Ghanesen Aja Addy in der Kirche Unserer Lieben Frauen. Direkt vor dem Altar, neben lackglänzendem Flügel, skeptisch beäugt von den vier Steinfratzen im schweren Backsteingewölbe, zeigen die wonniglich strahlenden, sanft wippenden Herren, welch rhythmisches Potential doch im guten alten 4/4-takt noch immer steckt dank filigran sich verschiebender Binnenrhythmen. Oft betrommeln vier Musiker absolut synchron die Congas und nur die Akzente schwirren in einer Art von Polyphonie vom einen zum anderen. Außerdem erfuhr man durch einen Tänzer, daß das Hüftgelenk scheinbar doch nicht fest mit der Wirbelsäule verbunden ist und im Brustkorb mancher Menschen viele unentdeckte Kugelgelenke versteckt sein müssen.

Der unerwartetete Zusammenprall von schlafanzugartig gekleideten Musikern und strengem Konzertpublikum ging gut aus. Spätestens nachdem letzteres mitklatschen durfte war es gewonnen. Und einige unbelehrbare Marschfanatiker klatschten sogar unaufgefordert weiter, allerdings nicht in swingendem Off-beat, sondern nach alter, teutonischer Sitte schwerblütig dem Metrum entlang.

Eingeladen war das Ensemble, weil dieser Abend den Wundern des Rhythmus gewidmet war. Schon letztes Jahr in der DASA-Halle suchte Moderator Heinz-Otto Peitgen in Stücken unterschiedlichster Epochen und Herkunft allgemeine, musikalische Strukturen zu entdecken. Anhand der Maler Piranesi und M.C. Escher und des komponierenden Wissenschaftlers Jean-Claude Risset untersuchte er das Phänomen Sinnestäuschung. Offensichtlich eine Lieblingsidee. Denn auch dieses Jahr, bei Ligetis Etüden für Piano Solo, ergötzte er sich an der menschlichen Fehlbarkeit. So wie Gelb und Blau zusammen etwas ganz anderes, nämlich Grün ergeben, so sei die Summe aus zwei übereinandergelagerten Rhythmen ein gänzlich neuer Rhythmus: „Wir hören etwas, was nicht da ist.“ Ein Traum für jeden newtonfeindlichen Zeitgeist-Naturwissenschaftler. Doch Pianist Volker Banfield mußte diese schöne Vorstellung zerstören. Wir hören nichts, was nicht auch da ist, desillusionierte er den Freund grausam.

Viel zu ungenau betrieb Peitgen das Forschen nach Grundmustern komplexer Rhythmik. Unterschiede wurden verschliffen: barocke Polyphonie ist eben etwas anderes als Ligetische Rhythmusverzahnung; das Füllen eines Metrums mit rhythmischem Fleisch geschieht in Afrika anders als Europa. Trotzdem überzeugten Programmzusammenstellung und Interpreten. Der Bremer Orgelprofessor Hans-Ola Ericsson geht an Bachs „Musikalisches Opfer“ zupackend heran. Aber der große Vorwärtsdrang wird durch ein feines Netz von Verzögerungen immer wieder unterbrochen. Diese Sekundenbruchteile des Nachsinnens markieren nicht nur Themeneinsätze, sondern auch Intervallsprünge, harmonische Spannungen etc. Diese Auflösung der an sich schon komplizierten Struktur in kleinteiligere Verästelungen wird nach der Pause auskomponierte Struktur in einer Webernschen Bearbeitung. Hier dirigiert Daniel Harding seine Kammerphilharmonie romantisch-expressiv auch dann noch, wenn Pizzicato-Stellen den Streichern keine großen Möglichkeiten zum Schwelgen lassen. Beeindruckend, aber manchmal scheint sich der junge Dirigent mehr für seine Performance als für das tatsächliche, oft viel nüchternere Hörergebnis zu interessieren.

Erkundete ein Jahr zuvor Christian Tetzlaff mit Ligetis Violinkonzert die Grenze zwischen Klang und Schweigen, so übernahm diesen Part diesmal Tanja Tetzlaff anhand Ligetis Cellokonzert. Das, was einst ein klar identifizierbarer Ton war, wird hier auf unterschiedlichste Weise verunklärt: durch insektenartiges Umsurren des Zentrums, durch hautnahes Annähern zweier Instrumente. Selbst das Soloinstrument mischt sich oft derart chamäleonartig in die Klangumgebung hinein, daß es auf hinteren Sitzplätzen nicht immer klar zu identifizieren war. Nur gut, daß etwa ein Drittel der Besucher nicht genügend Geduld für diesen vierstündigen Konzertmarathon aufbrachten. Den zweiten Teil gab es dann großes Nachvornerücken und endlich klare Sicht. Barbara Kern