Fast drei Millionen müssen in Deutschland von Stütze leben

■ Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 7,1 Prozent gestiegen. Wohlfahrtsverband nennt Situation „dramatisch“, Minister Seehofer bleibt gelassen

Berlin (taz/AP) – Die Zahl ist erschreckend: 1997 waren insgesamt 2,92 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von Sozialhilfe abhängig. So viele wie noch nie. Das sind 7,1 Prozent mehr als 1996. Diese Daten gab gestern das Bundesamt für Statistik in Wiesbaden bekannt. Gezählt wurden die Personen, die zum Stichtag 31. Dezember 1997 „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“ erhielten. Eine mögliche Erklärung: Im vergangenen Jahr hatte die Bundesanstalt für Arbeit die AB-Maßnahmen zusammengestrichen, und schlagartig erhöhte sich die Zahl derer, die auf Sozialhilfe angewiesen waren. Nicht enthalten sind in dieser Statistik jene, die sich in „besonderen Lebenslagen“ an das Sozialamt wandten oder Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhielten.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach gestern von einer dramatischen Situation. Die gestiegenen Zahlen seien Ausdruck politischen Versagens. Nötig sei eine Reform der Sozialhilfe in Richtung einer bedarfsorientierten Grundsicherung. Der Verband geht davon aus, daß Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern stärker in die Sozialhilfe gerutscht sind. Jürgen Trittin, Vorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen, sagte, das Gerede von Bundeskanzler Kohl von Aufschwung und Konjunktur am Arbeitsmarkt gehöre angesichts dieser Zahlen in die Rubrik Luftschlösser.

Besonders in Ostdeutschland sind immer mehr Menschen auf dauernde Sozialhilfe angewiesen. Dort bezogen Ende vergangenen Jahres 389.000 Personen staatliche Hilfe, ein Anstieg um 23,9 Prozent seit 1996. In Westdeutschland stieg die Zahl der Bedürftigen um 4,9 Prozent.

Trotz des Zuwachses im Osten ist die Sozialhilfequote im Westen immer noch höher. Hier liegt der Anteil bei 3,8 Prozent, in den neuen Bundesländern bei 2,5 Prozent. Die Städte Berlin (West), Hamburg und Bremen liegen an der Spitze: Nahezu jeder zehnte braucht dort Stütze. Die niedrigsten Quoten hatten Bayern (2,1 Prozent) und Baden-Württemberg (2,5 Prozent).

Im Gegensatz zum Paritätischen Wohlfahrtsverband regt sich der zuständige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) nicht auf. Einer seiner Sprecher sagte gestern der taz, die Sozialhilfe folge der Entwicklung am Arbeitsmarkt. Im vergangenen Jahr sei die höchste Zahl an Arbeitslosen registriert worden. In diesem Jahr erfolge der Aufschwung, dementsprechend würde die Sozialhilfestatistik absinken. Erst in zwei Monaten seien die Daten nach Altersgruppen und Personenkreisen aufgeschlüsselt und somit interpretierbar. Die Gelassenheit des Pressesprechers mag mit den gesunkenen Ausgaben für die Sozialhilfe insgesamt zusammenhängen. Sie lagen 1996 noch bei 49,8 Milliarden Mark, 1997 waren es 44,4 Milliarden Mark. Die Entlastung ist allerdings der Pflegeversicherung zuzuschreiben, die im vergangenen Jahr erstmals alle Kosten für Pflegefälle den Sozialämtern abnahm. So wurden also für Sozialhilfe im engeren Sinne (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) 3,8 Milliarden mehr als 1996 aufgewendet, insgesamt 20,2 Milliarden Mark.

Besonders die Kombination aus sinkender Erwerbstätigkeit und mehr alten Menschen sei eine Tatsache, an der die Sozialsysteme nicht vorbeikommen, merkte Johann Hahlen, Präsident des Statistischen Bundesamtes, bereits im Mai an. 1991 sorgten noch 45 Prozent aller Bundesbürger mit eigener Arbeit für ihren Lebensunterhalt, 1997 konnten dies nur noch 41 Prozent. Annette Rogalla